Chucks (Cornelia Travnicek)
DVA Belletristik, 1. Auflage März 2012
Klappenbroschur, 192 Seiten
€ 14,99 [D] | € 15,50 [A] | CHF 21,90
ISBN: 978-3-421-04526-3
Leseprobe
Genre: Belletristik / Gegenwartsliteratur
Klappentext:
Mae trägt kämpferische Locken und Jeans, die mehr aus Loch denn Stoff bestehen. Ihr Leben ist wild und bunt, sie ernährt sich von Dosenbier und kennt sich aus mit Molekülen und Metaphysik, mit dem Leben, dem Tod und wie man gegen das Vergessen angeht.
Rezension:
In Wahrheit sind das Problem wir. Unser Leben ist eine Art Quant, unsere Welt hätte jeden möglichen Zustand gleichzeitig, wären wir nicht hier und würden sie beobachten und uns festlegen. Wir könnten also nicht sagen, ob wir glücklich oder unglücklich sind, wir hätten nichts und alles verloren und genauso viel gewonnen, jede Möglichkeit wäre für uns vorhanden, wenn wir nur nicht selbst den Deckel von unserer Schachtel Leben abheben und hineingaffen würden, in unserer unendlich dämlichen Neugier.
(Seite 93)
Mae lebt mit ihrem Freund Jakob zusammen, der als ziemlicher Spießer wahrscheinlich genau das perfekte Exemplar ist, um es ihrer Mutter zu präsentieren. Wenn sie denn noch großen Kontakt zu ihr hätte, was seit damals nicht der Fall ist. Damals, das war, als ihr kleiner Bruder an Krebs erkrankte und sie seinen Verfall Stück für Stück miterleben musste. Übrig blieben am Ende nur die roten Chucks, die er nie tragen konnte und die Mae seitdem auf ihrem Weg überallhin begleiten. Die Ehe ihrer Eltern zerbrach nach diesem Verlust und auch Mae überwarf sich immer mehr mit ihrer Mutter, bis sie schließlich mehr auf der Straße Zuhause ist als in der elterlichen Wohnung. Sie hängt mit Punks rum, richtet sich vor allem nach ihrer besten Freundin Tamara und philosophiert mit ihr über die verschiedensten Dinge des Lebens.
Im Zuge einer Anzeige wegen Körperverletzung wird sie zu vier Wochen Sozialarbeit in einer Einrichtung für Aids-Hilfe verdonnert, was ihr Leben nachhaltig verändern wird. Hier lernt sie Paul kennen, denkt in der Folge immer öfter an ihn und nach einem gescheiterten Wochenendtrip mit Jakob zieht Mae kurzerhand bei ihm ein. Doch Pauls Zeit ist begrenzt und Mae steht erneut ein schwerer Verlust bevor. Also beginnt sie, Paul in kleinen Dosen zu konservieren, um so gegen das Vergessen ankämpfen zu können.
Wenn man sich das Autorenfoto von Cornelia Travnicek anschaut, das Coverbild ihres Debüt-Romans daneben legt und schließlich auch noch den Klappentext liest, dann kann man sich sehr gut vorstellen, dass die erzählte Geschichte aus einem besonderen Blickwinkel erzählt werden wird. Blickt man erst mit ein wenig Enttäuschung auf die doch eher geringe Seitenzahl, so wird man gleich zu Beginn des Buches, mit dem Lesen des ersten Satzes eines Besseren belehrt: Die Autorin versteht es ganz vorzüglich, mit ihrem auf wunderbar widersprüchliche Weise poetischen und zugleich unverblümten Sprachstil einen direkten Draht zum Leser herzustellen. Obwohl die Story durch nicht klar abgegrenzte Rückblenden anfangs etwas wirr – im Laufe des Lesens gewöhnt man sich daran und kann recht schnell unterscheiden, zu welcher Zeit die aktuelle Szene spielt – zu sein scheint, kommt man schon nach wenigen Seiten nicht mehr auf die Idee, das Buch „mal eben“ zur Seite zu legen. Travnicek fesselt – nicht nur mit ihrer Charakterdarstellung, sondern auch mit Inhalt und Sprache.
Trotzdem bleiben dem Leser genug Momente, sich in seinen Gedanken treiben zu lassen. Besonders gut gelungen und zum Sinnieren einladend sind einzelne Abschnitte, in denen Mae ihre philosophische Ader zum Besten gibt. Hier wird dem Leser keine Meinung aufgedrängt, wenn auch manchmal der Eindruck entsteht, dass die Autorin sich einiger Klischees bedient, um die Geschichte runder zu gestalten – was gar nicht nötig wäre, denn Mae und ihr unkonventionelles, aber erfrischendes Denkvermögen sind einnehmend genug, um den Leser auf ihre Seite zu ziehen.
Chucks ist eine ernsthafte Geschichte, die an der Grenze vom Jung- zum Erwachsensein spielt und deutlich zeigt, wie verwischt diese Grenze, wie hauchdünn dieser Grat sein kann. Poetisch und lyrisch, aber auch gerade aus und ohne ein Blatt vor dem Mund schleicht sich Mae ins Innere des Lesers und bleibt mit ihren Ansichten und Anstößen auch lange nach dem Lesen noch präsent. Ein erstaunliches Debüt, das noch lange nachhallt, das vielerlei anregt und hoffentlich kein Einzelstück bleiben wird.
Fazit:
Ein Stück echtes Leben, eingefangen auf 192 Seiten und in seiner unverblümten, aber poetischen Darstellung endlich mal wieder ein außergewöhnliches Stück Literatur: Mit ihrem Debüt Chucks bringt Cornelia Travnicek lang vergessene Saiten im Leser zum Klingen, schafft dabei jede Menge Freiraum für eigene Gedankengänge und versteht es hervorragend, durch leise und laute Töne zu überzeugen. Ein einschneidendes Leseerlebnis!
Wertung:
Handlung: 3,5/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis/Leistung: 4/5
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