Der Augensammler (Sebastian Fitzek)
Klappentext:
Er spielt das älteste Spiel der Welt: Verstecken.
Er spielt es mit deinen Kindern.
Er gibt dir 45 Stunden, sie zu finden.
Doch deine Suche wird ewig dauern.
Innerer Klappentext:
Erst tötet er die Mutter, dann verschleppt er das Kind und gibt dem Vater 45 Stunden Zeit für die Suche. Das ist seine Methode. Nach Ablauf der Frist stirbt das Opfer in seinem Versteck. Doch damit ist das Grauen nicht vorbei: Den aufgefundenen Kinderleichen fehlt jeweils das linke Auge.
Bislang hat der „Augensammler“ keine brauchbare Spur hinterlassen. Da meldet sich eine mysteriöse Zeugin: Alina Gregoriev, eine blinde Physiotherapeutin, die behauptet, durch bloße Körperberührungen in die Vergangenheit ihrer Patienten sehen zu können. Und gestern habe sie womöglich den Augensammler behandelt …
Während die Polizei Alina misstraut, sieht der Enthüllungsjournalist Alexander Zorbach seine letzte Chance. Selbst ins Fadenkreuz der Ermittler geraten, hofft er nun ausgerechnet mit den Visionen einer Blinden seine Unschuld zu beweisen. Visionen, die allerdings seltsame Fehler enthalten …
Rezension:
Es gibt Geschichten, die sind wie tödliche Spiralen und graben sich mit rostigen Widerhaken tiefer und tiefer in das Bewusstsein dessen, der sie sich anhören muss. Ich nenne sie „Perpetuum morbile“. Geschichten, die niemals begonnen haben und auch niemals enden werden, denn sie handeln vom ewigen Sterben.
(aus dem Epilog, Seite 442)
Alexander Zorbach, früher selbst einmal angesehener Polizist, legte nach einem zweifelhaften Vorfall mit Kindesentführung und der Tötung einer Frau (zwangsläufig) seine Arbeit bei der Polizei nieder und wurde Reporter bei einer großen Zeitung, die ihn vor allem wegen seiner guten Kontakte zu seinen ehemaligen Kollegen einstellte – die Möglichkeit auf Insiderinformationen aus erster Hand, bevor die Konkurrenzblätter davon Wind bekommen, macht sich wahrscheinlich immer gut bei Einstellungsgesprächen. Bis heute konnte er den Vorfall auf der Brücke, bei der er zwar einen kleinen Jungen retten konnte, seine Entführerin jedoch zu Tode kam, nicht verarbeiten. Und nicht nur seine berufliche Stellung leidet darunter, auch sein Familienleben hielt dem selbst auferlegten Druck nicht stand und ging in die Brüche. Was anfangs wie eine unangenehme Nebenwirkung aussieht, stellt sich im Laufe des Romans als wichtiger Bestandteil heraus.
Im „Augensammler“ sieht Zorbach seine Chance, seinen doch sehr runtergekommenen Ruf wieder auf Vordermann zu bringen und ein Stück seiner Ehre zu retten. Und natürlich hofft er, auch einen Teil seiner inneren Dämonen, die ihn seit dem Vorfall vor sieben Jahren nicht loslassen, durch die Klärung des Falles loswerden zu können. Obwohl offiziell natürlich nicht erlaubt, hört er den Polizeifunk ab, um immer der erste Reporter vor Ort zu sein, wenn sein „Gegner auf Zeit“ wieder einmal zugeschlagen hat. Als er durch Indizienbeweise selbst in die Schussbahn seiner ehemaligen Kollegen gerät und Zuflucht an einem, wie er dachte, geheimen Ort sucht, wird er dort von der blinden Alina bereits erwartet, die darauf beharrt, dass sie von ihm persönlich hinbestellt wurde. Es stellt sich heraus, dass die Polizei ihr keinen Glauben geschenkt hat, als sie auf dem Revier ihre Aussage machte, am Vortag mit dem „Augensammler“ in Kontakt gekommen zu sein. Trotz einiger Widersprüche in ihren Aussagen macht sich Zorbach gemeinsam mit Alina auf die Suche nach der Wahrheit und der Lösung des Falles – nicht ahnend, dass der eigentliche Fall mit dem Finden der aktuell vermissten Kinder erst losgehen würde.
Der sechste Roman des deutschen Psychothriller-Bestseller-Autors aus Berlin, der es immer wieder aufs Neue versteht, seine Leser zu überraschen, fährt mit einer nicht ganz neuen, aber erstaunlich brillant umgesetzten Idee auf: Das Buch wird quasi von hinten nach vorne gelesen. Seitenzahlen und Kapitel beginnen hinten, sodass man auf der letzten Seite erst auf den Prolog stößt – und doch wird die Geschichte vorwärts erzählt. Oder doch nicht? Ein Verwirrspiel, das erst dann einen Sinn ergibt, wenn man ans Ende des Buches angelangt – im Grunde gibt es keinen wirklichen Anfang und kein wirkliches Ende, und genau darin liegt der Clou von Fitzeks aktuellem Psychothriller. Der Leser fiebert mit, was vor allem durch verschiedene Perspektiven zu einem atemzehrenden Wettlauf wird – nicht nur aus der Sicht Zorbachs, der den größten Teil in Ich-Form erzählt, sondern auch aus der Sicht des Opfers bekommt der Leser sozusagen Informationen aus erster Hand. Auch Alina und der leitende Ermittler kommen zeitweilig in den Genuss, ganze Kapitel zu „beherrschen“, und selbst der „Augensammler“ erhält in Form von E-Mails an die Chefredakteurin der Zeitung, für die Zorbach schreibt, zweimal die Chance, zu Wort zu kommen.
Zugegeben, vieles baut auf den doch wackeligen Stein „Zufall“, aber wenn man sich darauf einlässt und nicht jedes kleine Detail in Frage stellt, wird das Konzept, mit dem Fitzek hier arbeitet, wieder einmal stimmig. Langwierige und ausdauernde Recherche ermöglicht es ihm erneut, seine Storyline mit fundiertem Wissen zu unterstreichen und so authentischer zu machen. Auch die Aussage, die wieder einmal versteckt ist, ist dieses Mal eine ganz besonders wichtige, besonders in Anbetracht der familiären Situationen heutzutage. Welche genau, möchte die Rezensentin hier nicht verraten, da es den Lesespaß eventuell schmälern könnte. Spätestens am Ende aber wird der Leser, wenn auch eher widerwillig, mit dem Kopf nicken und die Beweggründe des „Augensammlers“, dessen Identität überaus überraschend ist, zumindest in Ansätzen nachvollziehen können. Und durch das doch irgendwie offene Ende hält sich der Autor zum ersten Mal tatsächlich die Möglichkeit offen, die Geschichte eines Tages weiterzuführen und aufzuklären – sollte es letzten Endes vielleicht sogar ein Serienauftakt werden? Das wäre eine völlig neue Wendung in der Arbeitsweise Fitzeks …
Jetzt wissen Sie es: Die Geschichte des Mannes, dessen Tränen wie Blutstropfen aus den Augen quellen – die Geschichte des Mannes, der das verdrehte Bündel menschlichen Fleisches an sich presst, das nur wenige Minuten zuvor noch geatmet, geliebt und gelebt hat -, diese Geschichte, die Sie gerade gelesen haben, ist kein Buch.
Sie ist mein Schicksal.
Mein Leben.
Denn der Mann, der am Höhepunkt seiner Qualen erkennen musste, dass das Sterben erst begonnen hat – dieser Mann bin ich.
(aus dem Prolog, Seite 16)
Fazit:
Bei Der Augensammler scheiden sich die Geister der Fitzek-Fans. Vieles wirkt zu zufällig, um hundertprozentig real und authentisch zu sein. Trotz einiger Schwächen schafft es Sebastian Fitzek auch mit seinem sechsten Roman, Abgründe aufzutun und den Leser zu fesseln. Nicht sein bestes Buch, aber in jedem Fall ein Muss für Fans und solche, die es werden wollen.
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