Der Kinderdieb (Brom)
Klappentext:
Vergiss das Märchen – erlebe das Abenteuer!
Leise wie ein Schatten streift ein merkwürdiger Junge durch die dunklen Straßen von New York. Er nennt sich Peter und ist auf der Suche nach Kindern und Teenagern, die in einer aussichtslosen Situation nicht mehr weiterwissen. Peter rettet sie … und bietet ihnen an, sie in sein magisches Reich zu führen, in dem niemand je erwachsen werden muss. Doch Peter verrät ihnen nicht, dass dort nicht nur magische Geschöpfe und das Abenteuer ihres Lebens auf sie warten, sondern auch größte Gefahr …
Rezension:
Ein Junge, der kaum größer war als Nick, stand auf dem Gehweg. Er hatte eine handgearbeitete Lederhose mit direkt daran genähten, spitzen Stiefeln an. Dazu trug er eine zerlumpte Anzugjacke, eine von der altmodischen Sorte mit Troddeln, und darunter einen schwarzen Kapuzenpulli und einen Wildlederbeutel, fast wie eine Geldbörse, der mit einem Schultergurt befestigt war. Der Junge schlug die Kapuze zurück. Zweige und Blätter steckten in dem zerzausten, schulterlangen roten Haar, das darunter zum Vorschein kam. Seine Wangen und seine Nase waren von Sommersprossen übersät. Die Ohren des Jungen waren, nun ja, irgendwie spitz, wie die von Mr. Spock oder von einem kleinen Weihnachtswicht. Doch das Seltsamste an ihm waren seine goldenen glänzenden Augen.
(Seite 32)
Nick ist auf der Flucht, denn er hat einen Fehler gemacht. Einen großen Fehler, der ihn entweder das Leben zur Hölle machen oder ihn selbiges kosten wird, wenn derjenige in ihn die Finger bekommt, den er um eine Menge Drogen und Geld gebracht hat. Als die Handlager des betrogenen Dealers Nick erwischen, kommt ihm überraschend ein Junge zur Hilfe. Und nicht nur das, dieser Junge bietet ihm schließlich auch die Möglichkeit auf ein neues Zuhause, weit weg von seiner Mutter und ihrem zwielichtigen Untermieter, der Nick mit dem größten Vergnügen und recht ausgefallenen Ideen quält. Doch es ist kein Zufall, dass Peter im richtigen Moment am richtigen Ort auftaucht, denn er befindet sich wieder einmal auf der Suche nach verlorenen Kindern. Nach denen, die vom Schicksal und vom Leben gebeutelt sind. Nach denen, die in der eigenen Familie keine Liebe, keine Anerkennung und keinen Respekt erfahren. Nach denen, die nie kennen gelernt oder inzwischen vergessen haben, dass das Leben auch schön sein kann. Diesen Kindern bietet er einen neuen Weg in eine Gruppe anderer Kinder, wo Akzeptanz und Miteinander großgeschrieben werden. Aber Peter erzählt den verlorenen Kinder nicht die ganze Wahrheit über Avalon, seine Bewohner und den Zweck, den die Geköderten letztendlich wirklich erfüllen sollen.
Die Figur des Peter Pan übt seit jeher eine unerklärliche Faszination auf Jung und Alt aus – ein Junge, der nicht älter werden will und in einem Land der Phantasie auch einen Weg gefunden hat, immer ein Jugendlicher zu bleiben. Der Kinderdieb verleiht diesem Charakter ein neues Gesicht und vor allem einen neuen Hintergrund: Aus dem kinderlieben Befreier wird ein durchtriebener Planer, der vor allem Angst um seine Welt hat. So gesehen sind die Gründe, aus denen er tut, was er eben tut, zwar durchaus edel und verständlich, seine Handlungen und Tricks jedoch gerade in Bezug auf die unschuldigen und unwissenden Kinder nicht immer einwandfrei. Und doch versteht Brom es, ein mitreißendes und auch nachdenklich machendes Abenteuer zu erschaffen, das alle Seiten der Medaille beleuchtet und trotzdem oder gerade deshalb zu überzeugen weiß.
Sehr überzeugend ist auch die Liebe, mit der Brom sich seinen Charakteren gewidmet hat. Die genau passenden Nischen der Gesellschaft nutzend, stellt er Kinder und junge Erwachsene dar, die nichts zu verlieren haben und deshalb eigentlich leicht zu fangen sind. Die Lebendigkeit, die aus den Protagonisten spricht, lässt den Leser auch beim Beiseitelegen des Buches nicht zur Ruhe kommen und, kaum dass sich etwas Zeit findet, sofort wieder danach greifen. Als wäre man Teil der Gruppe, wird man den Kindern zur Seite gestellt und befindet sich auf Grund den lebendigen Darstellungen mittendrin. Dabei ruht sich der Autor keineswegs auf einem oder zwei Charakteren aus, sondern verhilft jeder einzelnen Person, so klein ihr Auftritt auch sein mag, zu einer besonderen Stellung und einem Platz im Gedächtnis des Lesers. Sicherlich bleiben die Hauptpersonen jederzeit präsent, doch auch Nebencharaktere kommen zu einem Einsatz, von dem ihre „Artgenossen“ in anderen Büchern nur träumen können.
Neben einer sehr derben Sprache und öfter auftauchenden, mitunter die Schwelle zum Ausfallenden übertretenden Ausdrücken seiner Charaktere liefert der Autor auch wundervolle Bilder für das innere Auge. Landschaftsbeschreibungen von Avalon und die Darstellung seiner Charaktere sind so gestaltet, dass dem Leser nahezu sofort ein konkretes Bild vor Augen steht – auch bevor man tatsächlich einen Blick auf die grandiosen Zeichnungen wirft, die ebenfalls vom Autor gezeichnet wurden und die Gestaltung des Buches perfekt abrunden. Detailreich sind demnach nicht nur die Beschreibungen, sondern auch die dazugehörigen Zeichnungen, die zusammen mit der edlen Umschlagsgestaltung eine Augenweide für jedes Bücherregal darstellen, während sich inhaltlich – rein auf dem Niveau der Ausdrucksstärke seiner Protagonisten – die Geister möglicherweise scheiden dürften.
Wem also derbe Sprache und unverblümtes Darstellen von Gewalt nichts ausmacht, aber auch die Bedeutung von Freundschaft und Heimat klar ist, der wird mit Der Kinderdieb definitiv eine Bereicherung erfahren. Ein uneingeschränkt zu empfehlendes Kinder- oder Jugendbuch ist diese Version von Peter Pan mit Sicherheit nicht, doch die knapp 650 Seiten laden auch erwachsene Leser wieder zum Träumen und Erinnern ein.
Fazit:
Der Kinderdieb ist im Grunde nichts niemand Geringeres als Peter Pan für Erwachsene. Erfrischend ausdrucksstarke (im wahrsten Sinne des Wortes) Sprache vermengt sich mit lebendigen Charakteren und schafft so Unterhaltung für Jung und Alt – wobei Eltern wohl auf den Jugendschutz achten sollten, wenn sie ihre Kinder nicht bereits frühzeitig verderben wollen. Allein die Zeichnungen des Autors sind den Kauf des Buches bereits wert – ein Rundum-Paket der guten Unterhaltung für Auge, Geist und Zwerchfell!
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