Die dunkle Unermesslichkeit des Todes (Massimo Carlotto)

Die dunkle Unermesslichkeit des Todes (Massimo Carlotto)

Klappentext:

Ein brutaler Raubmord zerstört die unbeschwerte Familienidylle von Silvio Contin. Seine Frau und sein kleiner Sohn werden kaltblütig ermordet. Contin fällt in ein tiefes Loch. Fünfzehn Jahre später erreicht ihn das Gnadengesuch des Mörders. Contin begreift, dass dies die Chance seines Lebens ist: Die Zeit der Rache ist gekommen.


Rezension:

In jenen Jahren hatte ich verschiedene Formen des Sterbens kennen gelernt. Manch einer stirbt im Schlaf und bemerkt nichts davon. Man anderer geht hellwach, aber rasch und plötzlich hinüber, er bemerkt es gerade nur eben. Doch das gilt nur für Erwachsene. Enrico, mein Sohn, war alt genug gewesen, um zu wissen, was der Tod ist, aber zu erschrocken, um zu begreifen, was mit ihm geschah. Er hatte den Schuss gehört und den glutheißen Strahl des Geschosses quer durch seinen Körper gespürt, dann war sein Leben erloschen, nach wenigen Sekunden. So hatte es mir der Gerichtsmediziner gesagt, und als ich ihn fragte, ob mein Sohn Zeit gehabt hätte, die Dunkelheit des Todes wahrzunehmen, hatte er mir die Hand auf die Schulter gelegt und versucht, mich mit abgegriffenen Worten zu trösten. Aber ich hatte genau gewusst, was ich da fragte. Ich war bei Clara im Krankenhaus gewesen, als sie starb, und sie hatte diese Dunkelheit gesehen.
(Silvano, Seite 17/18)

Bei einem Raubüberfall auf einen Juwelierladen geht die Flucht reichlich schief und bei einem ungeplanten Schusswechsel verliert Raffaello Beggiato den Kopf – er erschießt einen kleinen Jungen und nur wenig später auch dessen Mutter. Bei der anschließenden Gerichtsverhandlung wird er zu lebenslänglich verurteilt und erhält keinerlei Strafvergünstigung, da er komplett dicht hält und seinen Komplizen nicht verrät. Fünfzehn Jahre später wird ihm vom Gefängnisarzt Krebs diagnostiziert und sein größter Wunsch ist es, als freier Mann auf Hawaii zu sterben; das Letzte, was er will, ist ein elendiges Zugrundegehen im Gefängniskrankenhaus. In einem persönlichen Brief wendet er sich an den Hinterbliebenen seiner damaligen Opfer, Vater und Ehemann Silvano Contin, und bittet um Vergebung und Gnade. Für Silvano kommt dieses selbstverständlich nicht in Frage, er möchte den Mörder seiner Liebsten im Gefängnis verrecken sehen. Doch der zweite Täter von damals ist noch immer auf freiem Fuß, und nur mit Hilfe von Beggiato besteht die Möglichkeit, auch ihn nach all den Jahren zur Verantwortung zu ziehen. So reift nach und nach ein neuer Plan in Silvanos Kopf heran, der nicht nur weite Kreise zieht, sondern auch die Abgründe offenbart, die der gewaltsame Verlust der wichtigsten Personen in einem Leben reißen kann.

Massimo Carlotto, der selbst zu Unrecht wegen Mordes verurteilt eine sechsjährige Gefängnisstrafe absitzen musste, bevor er begnadigt wurde, beginnt die Geschichte um Silvano und Raffaello sehr leise. Nur langsam findet der Leser Zugang zur Story und zum sich fast heimlich aufbauenden Showdown, der über den gesamten Verlauf des Buches immer spürbar im Hintergrund lauert. In keiner Weise vorhersehbar ist der Leser gezwungen, Seite für Seite aufmerksam zu lesen, um die auf den ersten Blick kaum bestehenden Zusammenhänge zu erkennen und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Dass der Autor selbst einige Zeit in Haft verbrachte, macht gerade die Passagen des verurteilten Raffaello umso authentischer, der ausführlich über seine Zeit im Gefängnis berichtet und Einblicke in das Leben hinter Gittern gewährt. Auch die Ängste in Bezug auf seine Krankheit werden anschaulich dargestellt, und obwohl er zwei Menschen auf dem Gewissen hat, werden beim Leser doch Sympathien geweckt.

Neben einigen weiteren Charakteren dreht sich eigentlich alles um Silvano und Raffaello. Diese beiden sind es auch, die als Einzige wirklich zu Wort kommen, Massimo Carlotto versteht es geschickt, den Wechsel zwischen den jeweiligen Ich-Perspektiven so zu gestalten, dass der Leser nicht verwirrt wird. Durch die Gestaltung des Buches weiß man immer ganz genau, wessen Blickwinkel man gerade vor Augen hat, denn zugegebenermaßen fällt die Zuordnung allein durch die Worte manchmal doch schwer. Silvanos Plan, auch den zweiten Täter nach all den Jahren zur Rechenschaft zu ziehen, ist sehr skurril und nahezu abgedreht – der Verlust von Frau und Sohn hat ihn zu einem völlig neuen, anderen, gefährlichen Menschen gemacht. Was nachvollziehbar ist und vom Autor auch nachvollziehbar beschrieben wird. Erstaunlich, mit welcher Liebe zum Detail Carlotto seine Charaktere gestaltet hat, doch auch hier kommen wahrscheinlich die eigenen Erfahrungen sehr zum Zuge.

Für Krimi-Liebhaber, die miträtseln wollen, wer der Täter war, und die Spaß an mühevoller Kleinstarbeitsermittlung haben, ist Die dunkle Unermesslichkeit des Todes sicherlich nicht die richtige Lektüre. Wer jedoch eintauchen will in die Hintergründe eines sich rächen wollenden Menschen, der alles Wichtige im Leben verloren hat, und wer die andere Seite der Medaille kennen lernen möchte, der ist mit diesem Roman, der weitaus länger als knappe zweihundert Seiten wirkt, überaus gut beraten.


Fazit:

Die dunkle Unermesslichkeit des Todes ist anders als normale Krimis. Man weiß von Anfang an, wer Täter war und wer Täter sein wird. Und doch gelingt es Massimo Carlotto durch den Perspektivenwechsel zwischen Silvano und Raffaello, einen grandiosen Spannungsbogen aufzubauen und für immer neue überraschende Wendungen zu sorgen. Nichts für den Alltag, sondern ganz speziell, aber so oder so ein Muss für Krimi-Kenner!



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