Die Einsamkeit der Primzahlen (Paolo Giordano)

Die Einsamkeit der Primzahlen (Paolo Giordano)

Klappentext:

“Mattia hatte gelernt, dass es Paare von Primzahlen gab,
zwischen denen immer eine gerade Zahl stand,
die verhinderte, dass sie sich berührten.
In Mattias Augen waren sie beide, Alice und er, genau dies:
Primzahlen, allein und verloren, sich nahe, aber doch nicht nahe genug,
um einander wirklich berühren zu können.“

Paolo Giordano findet unvergessliche Bilder für die verschlungenen Wege, auf denen die Dramen der Kindheit in uns fortwirken, und erzählt mit meisterhafter Spannung von zwei Menschen, die das Schicksal füreinander bestimmt zu haben scheint.

Dieser Roman wurde mit Italiens renommiertestem Literaturpreis – dem Premio Strega – ausgezeichnet und führte monatelang die Bestsellerliste an. Literaturkritiker in aller Welt rühmen die erzählerische Kraft von Paolo Giordano.


Rezension:

Primzahlen sind nur durch 1 und sich selbst teilbar. Sie haben ihren festen Platz, eingeklemmt zwischen zwei anderen, in der unendlichen Reihe natürlicher Zahlen, stehen dabei jedoch ein Stück weiter draußen. Es sind misstrauische, einsame Zahlen.
[…] Primzahlzwillinge werden sie von Mathematikern genannt: Paare von Primzahlen, die nebeneinanderstehen oder genauer, fast nebeneinander, denn zwischen ihnen befindet sich immer noch eine gerade Zahl, die verhindert, dass sie sich tatsächlich berühren.
(Seite 155 und 156)

Zwei völlig unterschiedliche Menschen – zwei völlig verschiedene Schicksale – zwei sich ähnelnde Seelen – zwei Primzahlen – Primzahlzwillinge.

Die Einsamkeit der Primzahlen fesselt ab der ersten Seite; schon die beiden einleitenden Kapitel, die sich mit der jeweiligen Kindheit – und den damit verbundenen Schicksalsschlägen – beschäftigen, reißen den Leser sofort mit. Schicksale, die so normal und leider auch zeitgemäß sind, werden geschildert und geben dem Leser einen sehr lebendigen Eindruck der Protagonisten.
Aus diesen Geschehnissen in sehr jungen Jahren entwickeln sich ganz spezielle Charaktere, die ihr Leben lang mit den Folgen und Konsequenzen dieser traumatischen Ereignisse leben müssen. Alice entwickelt sich zu einer offensichtlich magersüchtigen jungen Frau, während Mattia ein mit Zahlen jonglierender, aber immer etwas abwesend und in seiner eigenen Welt lebend wirkender Diplommathematiker wird – beide stehen durch ihre Kindheit neben sich und scheinen nie wirklich irgendwo dazuzugehören.
Durch das Bestehen einer Mutprobe wird Alice schließlich in den Freundeskreis von Viola aufgenommen, und als die Mädchenclique sich auf die Suche nach einem geeigneten Ersten-Kuss-Jungen macht, wird Alice auf Mattia aufmerksam. Und so entwickelt sich eine tiefe Freundschaft, die von Grund auf für mehr bestimmt ist – jeder weiß und sieht das. Jeder, bis auf Alice und Mattia selbst.
So leben sie mit-, aber auch nebeneinander her, immer das Gefühl der Zusammengehörigkeit im Inneren, aber keiner der beiden bringt den Mut zum ersten Schritt auf. Die Dinge gehen ihren Lauf, Alice und Mattia ihren Weg, der sie zwangsläufig auseinander treibt – trotzdem scheinen sie immer miteinander verbunden zu sein und keiner vergisst den anderen jemals wirklich. Vielleicht meint das Schicksal es in den Erwachsenenjahren doch noch gut mit ihnen …

Alice und Mattia sind geheimnisvolle, verquere, interessant gestaltete Charaktere, die dem Leser sofort ans Herz wachsen. Sympathisch verletzlich und erschreckend schmerzbefreit, herzerweichend resignierend und erstaunlich kampfbereit scheinen ihre Persönlichkeiten in sich selbst widersprüchlich, ergänzen sich jedoch hervorragend. Als Leser hat man manchmal den unbändigen Drang, die beiden am Kragen zu packen und ihre Köpfe aneinander schlagen, weil man sich wünscht, dass sie endlich aufwachen und das vor ihnen liegende Glück greifen – und ihr Leben in vollen Zügen, verdientermaßen genießen.
Auch die Nebencharaktere wie zum Beispiel Alices Vater und die Eltern Mattias sind wunderbar gestaltet – man lernt sie kennen, ohne dass sie sich in den Vordergrund drängen, und trotzdem weiß man, dass dem Buch ohne ihre Nennung wichtige Bestandteile fehlen würden.

Giordano schafft eine unglaublich tiefsinnige Geschichte, die sehr berührt und manches Mal einen dicken Kloß im Hals hinterlässt. Das Lesen lässt einen das eigene Atmen vergessen und man hat das Gefühl, dass das eigene Herz für ein paar Schläge aussetzt. Dass man sich selbst in vielen Dingen wiedererkennt, macht das Buch noch ein Stück authentischer. Die verquere Psyche seiner Protagonisten in solch schlicht-poetische Sprache zu verpacken, die den Leser trotz ihrer Schlichtheit das Buch nicht weglegen lässt, ist nur ein Grund, warum Die Einsamkeit der Primzahlen eine besondere Stellung in der Literaturgeschichte verdient.

Ein großer Dank geht an den Übersetzer Bruno Genzler, der auf der von mir besuchten Lesung von Autor, Dolmetscherinnen und Gastleserin ebenfalls in den höchsten Tönen gelobt wurde. Es ist selten, dass eine Übersetzung so nah am Original ist, dass der Autor trotz sprachlicher Schwierigkeiten aus der deutschen Übersetzung vorliest. Eine besondere Lesung von einem besonderen Buch.

So erlebten sie die langsame und unsichtbare wechselseitige Durchdringung ihrer Welten, wie zwei Sterne, die sich in immer kürzeren Umlaufbahnen um eine gemeinsame Himmelsachse drehen und denen es offenbar bestimmt ist, an irgendeiner Stelle Raum und Zeit miteinander zu verschmelzen.
(Seite 187)


Fazit:

Die Einsamkeit der Primzahlen ist das einfühlsame und bewundernswerte Debüt eines jungen Talentes, das fesselt, mitnimmt und nachdenklich macht. Begeisterungsstürme auslösend, gehört es in jedes Belletristik-Regal und zu den Büchern, die man im Laufe seines Lebens wohl immer wieder zur Hand nehmen wird.



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