Die Landkarte der Zeit (Félix J. Palma)
Kindler, 1. Auflage September 2010
HC mit SU, 720 Seiten
Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen
(D) 24,95 € | (AT) 25,70 € | sFr 41,50
ISBN: 978-3-463-40577-3
Leseprobe
Genre: Historik in Verbindung mit Science Fiction und Liebesgeschichte
Klappentext:
Eine Reise durch Jahrhunderte.
Eine Liebe ohne Grenzen.
Eine Geschichte voller Phantasie.
London, 1896: Andrew, ein wohlhabender Fabrikantensohn, reist in die Vergangenheit, um seine große Liebe wiederzugewinnen.
Die junge Claire macht eine Zeitreise aus dem viktorianischen London ins Jahr 2000 und trifft den Mann, den sie in der Zukunft lieben lernte, in ihrer Zeit wieder.
Inspektor Garrett jagt einen Mörder, der seine Opfer mit Waffen tötet, die noch gar nicht erfunden wurden.
Alle Fäden laufen bei einem dämonischen Bibliothekar zusammen. Nur er kennt das Geheimnis der Landkarte der Zeit.
Ein Fest der Phantasie, in dem der Leser Jack the Ripper begegnet und H.G. Wells, den Erfinder der Zeitmaschine, in einer völlig überraschenden Rolle kennenlernt.
Rezension:
Wenn die Zeit eine räumliche Dimension ist, warum können wir uns dann nicht frei in ihr bewegen, wie wir es in den anderen drei Dimensionen tun?
(Charles Winslow, Seite 111)
Faszination Zeitreisen. Wohl spätestens seit der Erfindung von Uhren beschäftigen sich die Menschen mit dem Gedanken an die Möglichkeit, nach Belieben quer durch die Zeit zu reisen. Was wäre, wenn man die schlimmsten Geschehnisse, die todbringendsten Kriege, die gefährlichsten Epediemien und Pandemien durch eine Reise in die Vergangenheit verhindern oder zumindest sehr stark eindämmen könnte? Welchen Einfluss könnte man schon heute nehmen, wenn man das Wissen aus der Zukunft hätte, sei es auf technischem oder gesundheitlichem Gebiet? Und was würde geschehen, wenn man den Zeitlauf nur durch einen minimalen Eingriff, eine im Grunde nicht ins Gewicht fallende Änderung im Gefüge der Welt und des Lebens vornehmen könnte?
Mit diesen und anderen Fragen beschäftigt sich Félix J. Palma in seinem Historik-Roman Die Landkarte der Zeit, für das er als Schauplatz das viktorianische London ausgewählt hat. Aufgeteilt in drei recht umfassende Überkapitel, von denen jedes seine ganz eigene Geschichte erzählt, schafft es der spanische Schriftsteller, dem Leser zahlreiche Facetten der damaligen Zeit zu vermitteln. Dass alle drei Geschichten auf irgendeine Weise zusammen hängen, wird dem Leser erst mit Beginn des zweiten Abschnittes wirklich bewusst: Nur wenige Jahre nach Erscheinen von H. G. Wells Roman Die Zeitmaschine, der heute auch als Pionierwerk der modernen Sciene-Fiction gehandelt wird, gibt es dank der „Zeitreisen Murray“ die Möglichkeit, ins Jahr 2000 zu reisen und dort den entscheidenden Kampf zwischen zwei Mächten quasi live zu erleben. Und eben dieses Unternehmen „Zeitreisen Murray“ scheint sich letztlich als Bindeglied zwischen allen drei Überkapiteln herauszustellen, oder zumindest als eines von vielen. Denn bereits während des Lesens bemerkt man viele kleine Querverweise und stolpert über vor einigen Seiten schon einmal ähnlich gelesene Stellen und Namen, Begegnungen und Momente.
Hierbei greift Palma auf zwei „echte“ Charaktere zurück, denen er seinen ganz persönlichen Stempel aufdrückt und ihnen so die Authenzität gibt, beim Leser Sym- und Antipathien wecken zu können. Allerdings finden nicht nur die im Klappentext genannten „Berühmtheiten“ Jack the Ripper und Herbert George Wells ihren Platz in der umfangreichen Geschichte, sondern auch unzählige unbekannte, aber nicht weniger liebenswürdige Charaktere. Als Leser erlebt man in Claire eine zwar aufmüpfige, sich jedoch im Großen und Ganzen an die Etiquette haltende Dame, die die Stärke ihres Widerstandes in kleinen Gesten zu verstecken weiß. Auch Andrew und sein Cousin Charles verstehen es auf ihre Art, den Leser von sich und ihrem Handeln zu überzeugen. Jeder noch so kleine Nebencharakter findet seine Daseinsberechtigung im Verlauf der drei großen und am Ende ineinander überlaufenden Geschichten wieder und so wird der Leser nicht nur von einer gut durchdachten Erzählung, sondern auch von sehr vielseitigen Handelnen unterhalten.
Durch die sich mit fortschreitender Seiten Zahl häufenden Eingebungen wird Die Landkarte der Zeit zu einem sehr komplexen und manchmal undurchsichtigen Gefüge aus mehreren Erzählsträngen, die mal hier, mal da ineinander übergehen und miteinander verschmelzen. Hierbei als Leser den Überblick zu behalten gestaltet sich manchmal schwierig, denn die mitunter sehr anspruchsvolle Sprache des Autors – die hervorragend zum Plot und zeitlichen Geschehen passt – lässt den Wunsch nach einer längeren Lesepause und etwas weniger schwer zu lesendem Stoff unterschwellig immer etwas aufklingen.
Deshalb sollte für diesen über 700 Seiten starken Roman definitiv mehr Lesezeit eingeplant werden, denn neben dem Lesen selbst benötigt man auch seine Momente zum Nachdenken und um das Gelesene in vollem Umfang nachwirken lassen zu können. Palmas Roman ist demnach zwar spannend und sehr geschickt gestaltet, jedoch wirklich keine Lektüre für zwischendurch oder zum Einschlafen. Konzentration und ein Stück weit auch Durchhaltevermögen sind hier gefragt, um den auf jeder Ebene umfangreichen Roman tatsächlich in vollen Zügen genießen zu können.
Der Lauf der Zeit formte die überschäumende Gegenwart zu jenem abgeschlossenen und unveränderlichen Bild namens Vergangenheit, das der Mensch wie blind mit willkürlichen Pinselstrichen zu malen pflegte, welche ihre volle Wirkung erst entfalteten, wenn man genügend weit zurücktrat und das Gemälde in seiner Ganzheit betrachtete.
(Seite 31)
Fazit:
Die Landkarte der Zeit ist ein gut durchdachtes, jedoch auch sehr komplexes Buch, das mit vielen Längen sowie einem gehobenen und dadurch teilweise anstrengenden Sprachstil aufwartet. Über viele Umwege schafft Félix J. Palma eine in sich abgeschlossene Geschichte, die auf mehreren Ebenen verläuft und durchaus spannende Phasen hat, die sich allerdings immer wieder mit zähflüssigen Passagen abwechseln. Ein Buch, das man kaum oder nur mit Mühe in einem Rutsch lesen kann, welches aber definitiv ins Regal eines jeden Zeitreisen-Interessierten gehört.
Wertung:
Handlung: 4,5/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 3,5/5
Preis/Leistung: 4/5
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