Die Wiege aller Welten (Jeremy Lachlan)
Klappentext:
Wir betreten das Schloss freiwillig.
Wir betreten das Schloss unbewaffnet.
Wir betreten das Schloss allein.
Diese drei Gesetze hängen in jedem Haus in Bluehaven und jeder Bewohner kennt sie. Denn das Schloss ist der Eingang zu den Anderwelten. Und wer mutig genug ist, geht hinein, um dort Abenteuer zu erleben. Viele Jahrhunderte lang war das so. Doch vor vierzehn Jahren, in der Nacht des großen Bebens, hat das Schloss plötzlich John White und seine kleine Tochter Jane ausgespuckt. Seitdem ist das Tor verschlossen. Erst an dem Tag als die wütenden Inselbewohner Jane vor Gericht stellen wollen, erbebt die Erde erneut …
Rezension:
Das Küstendorf Bluehaven ist, seit sie denken kann, Janes Zuhause. Na ja, oder zumindest der Ort, den sie so nennt, denn ein heimatliches Gefühl wird ihr von der Dorfgemeinschaft nicht vermittelt. Ganz im Gegenteil, Jane und ihr verwirrter, in sich gekehrter Vater werden als Aussätzige behandelt und man gibt ihnen die Schuld an allem Unheil, das seit ihrer Ankunft vor vierzehn Jahren die kleine Insel ereilt. Jane selbst erinnert sich fast gar nicht mehr an diese Zeit und versteht nicht so recht, warum die Bewohner des Dörfchens einen Zusammenhang zwischen all dem sehen. Einzig Violet, die etwas aus der Art schlagende Tochter ihrer zwangsläufigen Gastgeber, bei denen Jane und ihr Vater im Keller untergebracht sind, steht auf Janes Seite und bemüht sich nach bestem Wissen, das Leben ihrer Freundin ein wenig bunter und lebendiger zu gestalten. Doch auch sie kann nicht verhindern, dass Jane schließlich vom Dorfrat vor Gericht gestellt und für ihre Schuld verurteilt werden soll. Womit allerdings niemand gerechnet hat, ist die Reaktion des Schlosses auf die Anklage Janes – und dass es so überhaupt nicht einverstanden zu sein scheint. Mit der Hilfe von Violet und einer alten, verschrobenen Lady gelingt Jane schließlich die Flucht – aus den Fängen der Dorfbewohner, ins Labyrinth des Schlosses. Niemand weiß genau, was sie dort erwartet, und ob es nicht vielleicht doch besser für sie gewesen wäre, sich in Bluehaven einfach ihrem Schicksal zu ergeben …
In der (Jugend-)Fantasy etwas wirklich Innovatives zu bringen, ist heutzutage gar nicht so einfach. Gefühlt hat man alles schon mal gelesen, jede neue Welt schon mal durchquert, jede besondere Charaktereigenschaft schon mal erlebt, jedes fantastische Wesen schon mal irgendwo kennengelernt. Dass der Grundplot von Die Wiege aller Welten als wohlbekannt erscheint, überrascht nur wenig. Und doch hat Jeremy Lachlan etwas ganz Eigenes kreiert, weil er eigentlich Altbekanntem eine völlig unerwartete, neue Note gibt. Ein ärmliches, missverstandenes Mädchen ist die einzige, die ein magisches Schloss betreten kann, das seit seiner Ankunft vor vierzehn Jahren verschlossen ist und sich gegen jeden Besucher wehrt. Dass ihr deshalb der Hass ihrer Dorfgemeinschaft ohne jede Rückhaltung entgegenschlägt, liegt auf der Hand. Protagonistin Jane gehört allerdings nicht zu den Charakteren, die sich gegen diesen tiefsitzenden Groll auflehnen – weder im Verborgenen noch im Offensichtlichen. Vielmehr hat sie sich mit ihrem Dasein abgefunden, und das Einzige, was für sie zählt, ist ihr Vater, dem es seit ihrer Strandung auf der kleinen Insel Bluehaven jeden Tag schlechter geht. Der Autor versteht es hervorragend, den psychischen Verfall authentisch und nachvollziehbar zu gestalten, und gibt Jane zumindest anfänglich eine eher leise, dennoch rebellische und definitiv freche Stimme. Auch die anderen Charaktere – seien es die verschiedene Absichten hegenden Dorfbewohner oder die geheimnisvollen, teilweise grausigen Kreaturen im Schloss – können allesamt mit eindeutig uneindeutigen Zügen auffahren. Es ist erfrischend zu lesen, welche Entwicklungen die einzelnen Personen machen und welche Rolle(n) ihnen im weiteren Verlauf der Geschichte zugeteilt werden.
Was Die Wiege aller Welten aber wirklich besonders macht, ist das Schloss selbst. Die Welt, die Jeremy Lachlan hier geschaffen hat, ist mysteriös, beängstigend, fantastisch und in Teilen wirklich (alp)traumhaft. Ähnlich einem niemals enden wollenden Labyrinth voller Gefahren verschieben sich die Realitäten und das Zeitgefüge, solange man sich im Schloss aufhält – das kommt auch beim Leser auf beeindruckende Weise an. Wer denkt, die kommenden Geschehnisse wären vorhersehbar, wird in dieser Geschichte mehr als einmal eines Besseren belehrt und vollkommen unerwartet überrascht. Bildhafte Beschreibungen lassen das Schloss förmlich zum Leben erwachen, einige der dort lebenden Wesen erzeugen Gänsehaut und die Begegnungen und Dialoge werfen immer wieder neue Fragen auf. Dass ziemlich am Ende dann auch noch ein wirklich fieser Plottwist auf den Leser wartet, erscheint wie ein eindeutiges Kalkül, doch ehrlich gesagt lässt Janes Abenteuer schon lange vorher den Wunsch wachsen, noch mehr und immer mehr in diese Welt abzutauchen. Humorvoll, aber auch mit einer gewissen Lehrhaftigkeit bringt Jeremy Lachlan den Leser nicht nur zum Schmunzeln und Luftanhalten, sondern auch zum Nachdenken. Über die Unterschiede von Menschen, über persönliche Hintergründe all jener, denen man im Leben begegnet, über Freundschaft und Mut und darüber, dass man manchmal etwas tun muss, obwohl man weiß, dass es gänzlich falsch ist.
Der Verlag sagt in seiner Beschreibung, dass Die Wiege aller Welten ein „Feuerwerk moderner Fantasy mit Science-Fiction-Elementen, einer großen Portion Magie und einem gehörigen Schuss Humor“ sei, und dem kann man eigentlich nur zustimmen. Trotz einiger minimaler Längen wird der Leser zwischen die Seiten und ins Schloss gezogen, begibt sich mit Jane auf die Suche nach verschiedenen Geheimnissen und bleibt nach dem Zuklappen mit einem Gefühl des Verlustes zurück. Und mit großer Lust auf eine hoffentlich baldige Rückkehr.
Fazit:
Ein junges Mädchen aus schlimmen Verhältnissen und einer bislang unentdeckten Gabe wird zur letzten Hoffnung der Welt – was vom Grundplot erst mal nach ganz klassischer, klischeebeladener Jugend-Fantasy klingt, wird schnell zu einem echten Geheimtipp voller unerwarteter Wendungen und faszinierender Protagonisten. Die Wiege aller Welten ist nicht nur optisch ein Hingucker, sondern fährt auch mit innovativem Weltensetting und jeder Menge besonderem Humor auf. Dieses Debüt macht auf so viele Arten Spaß, dass man sich schon jetzt auf hoffentlich noch viele weitere Abenteuer aus der Feder von Jeremy Lachlan freuen darf.
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