Ein Akt der Gewalt (Ryan David Jahn)
Klappentext:
Brutal, schockierend, berührend
Es ist vier Uhr früh, als sich Katrina Marino auf den Heimweg macht. Die Straßen sind menschenleer, trotzdem hat Katrina das Gefühl, beobachtet zu werden. Als sie sich wenig später ihrer Haustür nähert, nimmt sie aus dem Augenwinkel eine Gestalt wahr. Noch bevor sie reagieren kann, ist der Angreifer über ihr und sticht mit einem Messer auf sie ein. Katrina fängt an zu schreien. Katrinas Nachbarn hören ihre Schreie. Alle schauen aus ihren Fenstern, doch wer unternimmt etwas?
Rezension:
Nach einem langen Arbeitstag macht sich die Kellnerin und Barkeeperin Katrina Marino morgens um vier Uhr auf den Heimweg. Kat, wie die junge Frau von allen genannt wird, hat es nicht weit bis zu dem Wohnkomplex, in dessen Erdgeschoss sich ihre Wohnung befindet. Es ist nur eine kurze Autofahrt, die sie von ihrem Bett und dem wohlverdienten Schlaf trennt – so wäre es jedenfalls, wäre dies ein ganz normaler Abend. Doch bevor Katrina ihre Wohnungstür aufschließen kann, wird sie von hinten von einem grobschlächtigen Mann gepackt, der mit einem Messer auf sie einsticht. Die Schreie hallen durch den gut beleuchteten Innenhof und Kat bemerkt, dass hinter einigen Fenstern die Lichter angehen – doch niemand scheint ihr zu Hilfe zu eilen oder die Polizei zu informieren. Alle stehen nur am Fenster und starren auf sie herab, und doch lässt der Mann irgendwann von ihr ab, ohne dass Katrina den Grund dafür erkennen kann. Bedeutet dies ihre Rettung?
Er entsinnt sich an etwas, das sein Dad ihm gesagt hat, bevor er starb. Alle mutigen Männer haben Angst, sagte er zu Frank – alle: Wenn ein Mann keine Angst vor etwas hat, vor dem sich normale Menschen fürchten, macht ihn das nicht zu einem mutigen Mann, sondern zu einem Dummkopf. Ein mutiger Mann ist der, der Furcht verspürt, aber trotzdem tut, was er tun muss. Wenn du keine Angst hast, sagte er zu Frank, bist du auch nicht mutig.
(Seite 144)
Ein Akt der Gewalt von Ryan David Jahn basiert auf dem Mordfall Kitty Genovese, der 1964 weltweit für Schlagzeilen sorgte und dessen Umstände später unter dem Begriff „Bystander-Effekt“ in die Kriminalgeschichte eingingen. Das Geschehen wird von fiktiven Personen dargestellt, jedoch legte ihnen der Autor Zitate aus den originalen Polizeiberichten in den Mund. (Quelle: Wikipedia/Klappeninnentext)
Mit diesem Hintergrundwissen gestaltet sich die Geschichte um Katrina Marino deutlich anders, als würde es sich hier lediglich um einen fiktiven Roman handeln. Der Autor greift eine wahre Geschichte auf und spinnt diese als eine Art roten Faden durch unterschiedliche Lebensgeschichten, die auch in der Zeit des echten Vorfalls spielen. Denn obwohl Katrina laut Klappentext die Hauptperson ist, dreht sich der Roman eigentlich hauptsächlich um alle anderen Personen des Buches: Die Nachbarn, die Sanitäter, die Polizei und den Täter. Dabei sucht der Autor jedoch keine Ausreden oder legt den im Grunde Untätigen Ausflüchte zurecht – nein, vielmehr macht er deutlich, wie einfach Wegsehen ist und wie wenig es brauchen würde, einem Menschen Hilfe zu leisten. Ryan David Jahn bringt mit Ein Akt der Gewalt keinen klassischen Thriller auf den Markt, sondern polarisiert eher das Denken und die Klassifizierung der Menschen, die jedem tagtäglich über den Weg laufen. Menschen, die Teil des eigenen Lebens sind und in einer Notsituation vielleicht doch so wenig Anteil daran nehmen würden.
Geschickt verbindet Ryan David Jahn nicht nur die einzelnen Lebensumstände der Wohnkomplexmieter und zeigt dabei, welche ungeahnten Geheimnisse sich hinter so manchen Türen verstecken können, er setzt auch ein deutliches Zeichen gegen Rassismus und Homophobie – Dinge, die damals gesellschaftlich stark ausgelebt wurden und vielerorts auch heute noch werden. Er thematisiert auch korrupte Cops und Kindesmissbrauch, und verbindet all diese einzelnen Fäden zu einem Knäuel, das seinen Ursprung mit Katrinas Feierabend hat und seine Entwirrung nach einer kurzen, aber unheimlich lang erscheinenden Zeit von knapp zwei Stunden wieder bei Kat findet. Einige Kapitel werden auch aus Sicht des Täters erzählt, sodass der Leser in den Genuss kommt, die Situation von allen Seiten beleuchten zu können – was nichts an der Brutalität der Sache ändert. Nur das Lesegefühl wird dadurch ein ganz anderes, als nur aus einer Perspektive vermittelt werden würde.
Am Ende sitzt der Leser schließlich da und fragt sich, in was für einer Welt man lebt, leben muss, dass solche in Ein Akt der Gewalt geschilderten Situationen in manchen Ländern nahezu auf der Tagesordnung stehen. Ryan David Jahn greift Themen auf, über die sich jeder einzelne Gedanken machen sollte, und auch wenn die sehr ungeschönte und sprachlich nicht unbedingt ausgereifte Umsetzung nicht jedermanns Sache sein dürfte, gehört dieses Buch auf seine ganz besondere Art doch zu den wichtigsten des Genres.
Blitz und Donner reißen den Himmel auf, und Platzregen prasselt aus der offenen Wunde. Es weht kein Wind, und daher fallen die Tropfen senkrecht und krachen aus den Boden wie in kleinen Explosionen.
(Seite 266)
Fazit:
Ein Akt der Gewalt benötigt ein wenig Anlaufzeit zum Warmwerden, fesselt den Leser dann aber umso mehr. Der Erstling kann trotz protokollartiger Erzählweise mitreißen und obwohl die Grundidee keine eigene ist, sondern erschreckenderweise auf einer wahren Begebenheit basiert, setzt Ryan David Jahn der Geschichte seinen ganz eigenen Stempel auf. Ein wichtiges Buch, das in jedem Fall polarisiert!
Zurück zu:
Seelenvernichter (Corinna Engel & Christian Kaiser) Weiter mit:
Todesgeil (Bryan Smith)