Heute will ich leben (Nora Price)
Klappentext:
Die Wahrheit liegt in der Vergangenheit
Ohne Vorwarnung wird die 16-jährige Zoe von ihrer Mutter in eine Einrichtung namens »Twin Birch« verfrachtet. Was soll sie hier zwischen all den dürren, kranken Mädchen? Ihr einziger Halt sind die Briefe, die sie an ihre beste Freundin Elise schreibt. Doch Elise antwortet nicht. Nie. Nur langsam erkennt Zoe, dass der Grund für ihren Aufenthalt in »Twin Birch« in ihrer Vergangenheit liegt, bei Elise. Erst als sie die tragische Wahrheit akzeptiert, gelingt es ihr loszulassen und sich ihren eigenen Problemen zu stellen.
Rezension:
Wenn es draußen heiß ist, verliere ich das Gefühl dafür, wo mein Körper endet und die Luft beginnt. Im Winter sind die Grenzen schärfer. Im Sommer kann man sich aufs Handgelenk pusten, und der Atem ist dabei weder wärmer noch kühler als die Umgebung, nur anders.
(Seite 133)
Eines Tages zerrt ihre Mutter die junge Zoe aus dem Bett, trägt ihr auf, genug Klamotten für sechs Wochen zu packen, und verfrachtet sie ins Auto, ohne ihr zu sagen, wohin die Reise gehen soll. Nach einigen Stunden kommen sie bei einer Einrichtung an, die wie ein Wellnesshotel wirkt, doch in Wahrheit handelt es sich um eine spezielle Klinik für Mädchen mit Essstörungen. Direkt am Eingang muss Zoe ihr Handy abgeben, es gibt keinen Internetanschluss, dafür aber einen strengen Termin- und vor allem Ernährungsplan. Zoe hat keine Ahnung, was sie dort soll, schließlich isst sie zwar kontrolliert, aber regelmäßig und ihrer Meinung nach auf keinen Fall zu wenig. Die Kontaktsperre zur Außenwelt passt Zoe gar nicht, denn wie soll sie so mit ihrer besten Freundin Elise sprechen und ihr von diesem Alptraum erzählen? Der einzige Weg sind regelmäßige Briefe, die sie schreiben darf, und zusätzlich führt sie sehr genau Tagebuch über ihre Tagesabläufe. Nach und nach lernt sie auch die anderen Mädchen kennen und freundet sich mit ihnen an, doch das Lager wird schnell in zwei Hälften gespalten, vor allem als plötzlich Dinge verschwinden. Zoe macht es sich zur Aufgabe, die Täterin zu entlarven, und mit der Zeit offenbart sie sich auch immer mehr der Therapeutin Alexandra. Sie erzählt ihr von Elise und ihrer Freundschaft, und ganz langsam kommt sie dem Grund für ihre Anwesenheit in »Twin Birch« auf die Spur.
„Menschsein ist albern und bizarr. Wir tun seltsame Dinge, doch meistens nimmt niemand Notiz davon. Zum Glück.“
(Seite 246)
Das Thema Magersucht scheint derzeit ein echter Trend in der Jugendliteratur zu sein und Heute will ich leben reiht sich problemlos in diese schier endlose Reihe ein. Doch Nora Price lässt den Leser hier nicht stumpf auf die Thematik prallen, sondern verpackt das Ganze in eine Art seichten Krimi, bei der die Geschichte im Grunde genommen von hinten erzählt wird. In Tagebucheinträgen und Gesprächen berichtet die Protagonistin von ihrem Leben vor »Twin Birch«, lässt den Leser ihre beste Freundin kennen lernen und die enge Beziehung zu ihr. Obwohl sich irgendwie alles um die Essstörungen der Mädchen in der Einrichtung zu drehen scheint, erzählt die Autorin auch eine Geschichte über Freundschaft und schafft es an so mancher Stelle auch, den Adrenalinspiegel des Lesers ein wenig in die Höhe schnellen zu lassen. Dass dafür nicht immer Blut und Gewalt notwendig sind, wird hier sehr deutlich, und schon bald beginnt man, sich ebenfalls nach dem Grund für ihren Aufenthalt zu fragen. Durch das gesamte Buch zieht sich ein leiser roter Faden, der niemals aufdringlich ist, sondern teilweise sogar ein wenig untergeht. Zoes akribische Aufzeichnungen ziehen den Leser immer mehr ins Geschehen und bei der Reise in die Vergangenheit wird ihm recht schnell klar, warum die Mutter sich für diesen Schritt entschieden hat. Und obwohl die Charaktere im Gesamtbild leider ziemlich oberflächlich bleiben, verspürt man doch eine gewisse Tiefe und Verbundenheit, vor allem dann, wenn Zoe sich quasi in ihren Kopf gucken lässt.
Heute will ich leben behandelt keine einfache Thematik, bedient sich aber nicht des mahnenden Zeigefingers, sondern zeigt vielmehr verschiedene Anzeichen, die auf eine Essstörung hindeuten könnten. Natürlich muss man mit derlei Verdächtigungen sehr vorsichtig sein, doch es ist ein guter Weg, eventuell Betroffenen einige Möglichkeiten aufzuzeigen. Trotzdem bleibt die Geschichte ein Roman, dementsprechend gibt es auch einige Ungereimtheiten, die Nora Price leider nicht auflöst. Einige Handlungshintergründe bleiben deshalb leider im Dunkeln, was schade ist, da gerade die Therapeutin sicherlich die eine oder andere berechtigte Vermutung anstellt. Da das Buch für Jugendliche ab 13 Jahren geschrieben wurde, darf man auch nicht zu anspruchsvolle Sprache erwarten. Doch auch Erwachsene können durchaus ihre Freude an dem Roman haben, der zwar insgesamt ein wenig platt daher kommt, allerdings auch einige Perlen bereithält. Es ist ein Drahtseilakt, das Thema auf eine angemessene Weise anzugehen, und auch wenn es einige Schwachstellen gibt, ist es Nora Price im Gesamtbild recht gut gelungen. Wer eine annehmbar erzählte Geschichte mit ernstem Thema und keinen tiefgründigen Ratgeber erwartet, der liegt hier goldrichtig.
„Es ist unser Schicksal, albern auszusehen und Fehler zu machen. Wir werden alt und am Ende sehen wir wie verrunzelte Babys aus. Unsere Fehler müssen kein Scheitern bedeuten.“
(Seite 247)
Fazit:
Thematisch reiht sich Heute will ich leben in eine derzeit stetig wachsenden Vielzahl von Jugendromanen ein, die sich rund um die Magersucht und ihre Folgen drehen. Nora Price greift das Thema von einem anderen Blickwinkel aus betrachtet auf und entführt den Leser in einer spannend angehauchten Geschichte nach »Twin Birch«, wo die Protagonistin ganz langsam an die Wahrheit herangeführt wird. Ein sehr ruhiges, aber trotzdem aufwühlendes Buch, das vielleicht nicht unbedingt für Überraschungen sorgt, aber das ernste Thema durchaus verständlich und behutsam an den Leser bringt.
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3 Kommentare
Hey,
ich sehe das genau wie du. Bücher drehen sich in der letzten Zeit fast ausschließlich um psychische oder soziale Probleme. Deswegen hatte ich mir dieses Buch zunächst auch nicht näher angeschaut. Deine Beschreibung macht mich jedoch neugierig. Vielleicht gelingt es der Autorin mich doch noch mal mit einem Buch zum Thema Essstörungen (war auch mein Psychologie-Prüfungs-Thema, daher bin ich da vermutlich eh etwas kritischer) zu bewegen.
LG Nanni
Liebe Nanni,
das Thema ist schwierig, aber ich befasse mich derzeit öfter damit, da eine sehr gute Freundin lange magersüchtig war.
Ein Buch, dass ich Dir ganz besonders ans Herz legen möchte, ist „Und auch so bitterkalt“ von Lara Schützsack. Die Rezension findest Du ebenfalls hier auf den Schattenwegen. Hier wird aus der Sicht der kleinen Schwester erzählt – unglaublich berührend und sehr zart. Hat mich sehr beeindruckt und gehört vielleicht sogar zu den wichtigsten Titeln zu diesem Thema.
Herzlichst!
Ein ernstes Thema und ich finde es gut, wenn es für Jugendliche schön verpackt wird. Denn schießlich leben wir in einer Welt mir einem Idealbild. Es ist wichtig das solche Themen behandelt werden.
Ich finde sowas auch immer sehr interessant zu lesen.
Eine sehr schöne Rezension die du geschrieben hast.
Liebe Grüße
Vanessa