Ich hab die Unschuld kotzen sehen 3 (Dirk Bernemann)
Klappentext:
Bewegende Geschichten, zwischen poetischem Glanzbildsammelalbum und Kriegsberichterstattung, literarischen Bombeneinschlägen gleich, mit einer Sprache wie Musik zwischen Klavierballaden und Grindcore direkt aus dem Proberaum im Keller der Nervenheilanstalt.
Selbst im dritten und letzten Teil der Trilogie hat Dirk Bernemann nichts von seiner Sprachgewalt verloren, im Gegenteil. Jede Geschichte ist ein kräftiger Tritt in die Weichteile unserer Gesellschaft.
Rezension:
„Gedacht, geschrieben, fertig. Storys aus der Mitte des äußeren Randes. Kurz und schmerzvoll. Denn das hier ist die großartige, schmerzhafte und wunderbare Sache, die sich Leben nennt! Und wir stehen an der Front und sehen dem Leben beim Passieren zu. Und ich steh so rum und spüre den Wunsch, an meinen Eingeweiden zu kleben, ein Problem darzustellen, das nicht wegzuignorieren ist.“
(aus dem Vorwort, Seite 7)
Schon das Vorwort des dritten Bandes der kotzenden Unschuld, der den überaus passenden Beititel „Hoffnung ist Betrug“ trägt, lässt das Leserherz um einiges höher schlagen. Lange musste ausgeharrt werden, lange zerbrach man sich den Kopf über die Frage „warum denn nur als eBook?“, doch nun endlich, am Valentinstag des Jahres 2011 ist es soweit: Ich hab die Unschuld kotzen sehen 3 erobert den Literaturmarkt, stürmt die Buchläden und legt, zumindest teilweise, den Verkauf anderer Bücher lahm. Und das zu Recht, denn die Fans von Dirk Bernemanns Arbeits-Endprodukt vieler Jahre fieberten dem Erscheinungstag der abschließenden Kurzgeschichtensammlung im Buchformat so sehr entgegen, dass sich der Verlag schließlich dem Wunsch beugte.
Lang erwartet liegt das Buch jedoch schwer in den Händen, das so treffende Cover mit der bereits bekannten, wenn auch leicht veränderten Chucky-ähnlichen Puppe blickt herausfordernd und man fragt sich als Leser: Will ich wirklich, dass es so zu Ende geht?
„Dieses Leben ist eine Sentimentalfahrt, deren Ziel nicht mehr bestimmbar ist, es gilt nur, in der Spur zu bleiben. Es bleibt eine Frage offen, die uns in die Gemüter flüstert: Wenn man die Kurve kriegt, was macht man dann damit?“
(Seite 50)
Auch im dritten Unschuld-kotzen-Band beweist Dirk Bernemann, dass noch längst nicht über alle Abgründe des Lebens geschrieben wurde, und zeigt immer neue Lücken auf, die gefüllt und gestopft werden müssen. Hierbei pumpt er den Leser voll mit bleischweren Tatsachen, die mitten aus dem Leid anderer – es betrifft nie einen selbst – gegriffen und irgendwem anders vor die Füße gespuckt wurden. Es ist faszinierend, dass man als Leser denkt „Mensch, der Bernemann, hat schon über alles geschrieben und fummelt trotzdem aus den tiefsten und versifftesten Ecken immer noch etwas hervor, über das es sich zu schreiben lohnt.“ und dabei feststellt, dass es sogar einen Sinn ergibt. Einmal mehr wird aus mehreren Einzelschicksalen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun zu haben scheinen, eine große unförmige und glibbrige Masse, in die der Leser mit Anlauf hineinspringt und nur schwerlich wieder rausfindet.
Und will man das eigentlich? Während des Lesens wird dem Leser immer wieder schlagartig bewusst, dass es sich hierbei um den finalen Schlag der kotzenden Unschuld handelt. Danach ist Schluss, aus, vorbei, finito, Ende im Gelände. Und doch, mit dem Umblättern aufhören, das Lesen unterbrechen scheint eine Unmöglichkeit zu sein.
„Du denkst über Altersmilde nach und darüber, wo du morgen sein wirst, wenn die Sonne aufgeht. Du denkst über gute Musik nach und willst bald mal wieder welche hören. Du denkst über dein Leben nach und dass da irgendwo eine Unordnung entstanden ist, die aber aufräumbar ist. Du denkst über Liebe nach und vermutest sie da, wo du nicht bist, aber immerhin in der Nähe.“
(Seite 67)
Wie ein Strudel wirkt jede einzelne Geschichte. Ob bereits auf einer Lesung gehört oder schon auf Bernemanns Weblog gelesen – die Worte wirken anders, wenn man sie in Buchform vor sich hat. Mehr als einmal hat man das Gefühl, der Autor schaut einem direkt hinter die Augen, gräbt sich mit seinen Schreibfingern ins Hirn und zieht das ans Licht, was man lieber im Dunkeln lassen würde. Trotzdem ist da Erleichterung, eine Art Schwerelosigkeit, weil man endlich andere an den schwärzesten Gebieten des eigenen Denkens teilhaben lassen kann. Weil man endlich weiß, dass es anderen genauso geht.
Doch was bleibt nun nach dem abschließenden Trilogie-Band und der Gewissheit, dass Hoffnung Betrug ist?
„Irgendjemand hat mal gesagt, meine Geschichten zu lesen sei wie mit einem geliebten Menschen im Arm und einem kuscheligen Gefühl im Herzen einer brennenden Stadt von einem Hügel herab beim Kaputtgehen zuzusehen.“
(aus dem Vorwort, Seite 7/8)
Hierzu kann man abschließend nur noch eins sagen: JA!
Und: Schade, dass es vorbei ist.
Aber: Es wird nicht das Ende sein.
Denn: Dirk Bernemann schreibt fleißig an seinem nächsten Roman, auf dessen Erscheinen im Herbst 2011 sich alle Anti-Pop-Freunde freuen dürfen.
Fazit:
Mit Ich hab die Unschuld kotzen sehen 3 schließt Dirk Bernemann seine Trilogie um die Abgründe des Lebens ab. Lesungsbesucher stoßen auf bereits bekannte Texte, was den Lesegenuss jedoch nicht schmälert. Vielleicht ist aber genau das auch der Grund, warum der dritte Teil nicht so sehr überzeugen kann wie seine beiden Vorgänger.
Zurück zu:
Das Schweigen der Toten (Todd Ritter) Weiter mit:
Nebeljunge (Elke Keller)