Ich hab die Unschuld kotzen sehen I + II (Dirk Bernemann)
Klappentext:
„Guten Tag, die Welt liegt in Trümmern.“
So lautet die Begrüßung des Autors, bevor er einen hinabreißt in die Abgründe der Welt. Mit seinem literarischen Skalpell zelebriert er ein Massaker des Lebens, das fasziniert, um gleichzeitig abzustoßen. Wie in Tarantinos „Pulp Fiction“ reihen sich scheinbar zufällige Ereignisse aneinander, um später wieder aufgenommen zu werden. So spinnt sich ein roter Faden – und bald ist klar, dass Blut den Faden so rot schimmern lässt.
Mit einer exklusiven Bonusstory und zusätzlichen Gedichten.
Rezension:
Auf dem Cover ein blondes Püppchen mit großen Augen, das beim ersten Hinschauen an “Chucky” erinnert, neben einem relativ unschönen und irgendwie widersprüchlichen Buchtitel – schon allein durch die Aufmachung des Sammelbandes seiner ersten beiden Bücher erregt Dirk Bernemann Aufmerksamkeit.
Mit sehr viel Charme, trockenem Humor und einer gehörigen Portion bissigen Sarkasmus prügelt Bernemann geradezu auf die heutige Gesellschaft ein, die nach außen immer den schönen Schein bewahrt, innerlich jedoch bis zum Himmel stinkt und immer weiter ver- und zerfällt. Der Einleitungssatz seiner Begrüßung – „Guten Tag, die Welt liegt in Trümmern.“ – trifft es wie ein Hammer den Nagel auf den Kopf. Es passt wie die Faust aufs Auge, wie der Arsch auf den Eimer.
In diesem Buch vereinte „Einzelschicksale“, die doch alle irgendwie miteinander zusammenhängen, zeigen sehr deutlich, wie nah man jeder unbekannten Person eigentlich steht. Ich hab die Unschuld kotzen sehen ist ein „Wer kennt wen?“ in einer unschönen Variante der Wahrheit. Bernemann lässt die Leser in seinen Büchern hinter die Fassaden der Menschheit blicken und zwingt sie so, ihre Umwelt zu hinterfragen. Die einzelnen Protagonisten Bernemanns sind allesamt arme, bemitleidenswerte Kreaturen – man bekommt einen Blick hinter die Kulissen und stellt fest, dass die Unterschiede zwischen den menschlichen Abgründen doch gar nicht so groß sind. Trotz der jämmerlichen Geschichten sind die einzelnen Charaktere sehr liebevoll gestaltet. Es macht Spaß, die „Gedanken“ zu verfolgen und ihnen entweder beizupflichten oder sich seinen ganz eigenen Teil dazu zu denken. Durch den roten Faden, der jede Geschichte auffädelt, miteinander verbunden entsteht ein Handlungsnetzwerk, wie es so viele unterschiedliche Personen selten ausgemacht haben.
Obwohl man das gar nicht möchte, glaubt man dem Autoren, der einem die wahre Hässlichkeit des Menschheits-Gesichts so deutlich nahebringt. Man betrachtet sich und sein Handeln kritischer; und genau das ist wohl auch das Ziel Bernemanns: bewussteres Wahrnehmen der eigenen Person und anderen; kritisches Auseinandersetzen mit der Welt, in der man „lebt“ und jeden Tag ein bisschen stirbt; Hinterfragen der Gesellschaft.
Es ist schwierig, dabei die Waage zu halten und nicht zu misstrauisch zu werden, doch Bernemann zeigt auf, mit welcher Blauäugigkeit die Menschheit heutzutage durchs Leben geht. Oder durch das, was wir Leben nennen.
Als besondere Gimmicks sind in dieser Ausgabe eine exklusive Verbindungsstory, die eine Brücke zwischen Band 1 und Band 2 (Und wir scheitern immer schöner) schlägt, sowie zahlreiche, ebenfalls sehr kritische, bisher unveröffentlichte Gedichte enthalten. Auch Personen, die normalerweise nichts mit Lyrik anfangen können, werden diese Art der Gesellschaftskritik lieben.
Fazit:
Dieses Buch wird nicht jedem gefallen und viele haben mit Garantie etwas an der Art, wie Bernemann sich äußert, auszusetzen. Bernemann schafft es, eine sarkastische, aber unaufdringliche Gesellschaftskritik unter die Leute zu bringen. Als Leser fühlt man sich nicht dazu genötigt, seine Ansichten zu teilen, man spürt jedoch die leichten Stöße in Richtung veränderter Denkansätze.
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