Rotkäppchen muss weinen (Beate Teresa Hanika)
Fischer Schatzinsel, 1. Auflage Februar 2012
Taschenbuch, 224 Seiten
€ (D) 6,95 | € (A) 7,20 | SFR 10,50
ISBN: 978-3-596-80858-8
Genre: Jugendbelletristik
Klappentext:
Er nennt sie Rotkäppchen, als er sie mit einem Korb am Fahrradlenker den Berg hinabfahren sieht. Rotkäppchen – weil in dem Korb Wein und Essen sind für den Großvater, dessen Einsamkeit nur ein Vorwand ist. Rotkäppchen – weil der Weg aus dem Wald dunkel und steinig ist. Rotkäppchen – weil der Wolf sie längst in seiner Gewalt hat …
In ihrem mehrfach preisgekrönten Buch erzählt Beate Teresa Hanika einfühlsam und sensibel die Geschichte von einem Mädchen in größter Not – aber auch von einer Freundschaft so weit wie der Himmel und von einer ersten Liebe so zart wie Schneeflockenfedern.
Rezension:
Malvina ist dreizehn Jahre alt und muss, seit ihre Großmutter gestorben ist, regelmäßig mit Essen in Tupperdosen zum Großvater fahren – in den Sommerferien jeden Tag, denn Opa ist krank und einsam. Schon vor dem Tod ihrer Oma verbrachte „Malvinchen“ jeden Freitag nach der Klavierstunde Zeit bei ihren Großeltern, anfangs allein, später gemeinsam mit ihrer besten Freundin Lizzy. Doch Lizzy ist mit ihrer Mutter im Urlaub, sodass Malvina allein zu ihrem Großvater fahren muss. Diese Besuche sind ihr jedes Mal wieder unangenehm, denn Opa benimmt sich komisch, er versucht immer wieder sie zu auf den Mund zu küssen, und Malvina spürt ganz genau, dass das falsch ist. Als sie mit ihrem Gefühl offen umgehen möchte, hört ihr niemand zu – weder ihre Eltern noch der große Bruder, der sie sonst doch immer verstanden hat. Niemand ist da, an den sie sich wenden, bei dem sie Trost und Zuflucht finden kann, und ihr Kopf fühlt sich wie ein großes Fotoalbum an, dessen Erinnerungen jedoch nur schwarze Flecken sind. Einzig Großvaters Nachbarin scheint Malvina zu verstehen – und dann ist da noch dieser Klatsche aus der Neubausiedlung, der sich letzten Sommer mit seiner Jungs-Clique im Wettstreit um die alte Villa – inzwischen Zufluchtsort für Lizzy und Malvina – ziemlich viel erlaubt hat und sie auch jetzt nicht in Ruhe lässt. Und eigentlich will Malvina auch gar nicht, dass er weg geht … oder doch?
Wenn es in einem Buch um Kindesmissbrauch geht, handelt es sich meistens um biografische Erfahrungsberichte von inzwischen erwachsenen Mädchen. Rotkäppchen muss weinen ist hingegen eine rein fiktive Geschichte – zumindest was Namen und Orte angehen, denn das, was die Protagonistin im Roman erlebt, gehört leider für zu viele Kinder zum realen Alltag. Beate Teresa Hanika nimmt sich in ihrem Buch eines schwierigen Themas an und schafft es dabei, auf sehr behutsame Weise auf die leisen Stimmen der Betroffenen hinzuweisen. Dass sie das schlimme Thema sorgfältig mit einer zarter Liebesgeschichte und einer wunderbaren Mädchenfreundschaft verbindet, zeigt nur sehr deutlich, wie normal nach außen hin alles wirken kann.
Trotzdem bekommt man nie den Eindruck, als wolle die Autorin den Ernst der Thematik verschleiern – im Gegenteil, denn durch die kindliche Sprache erfährt der Leser zumindest einen Bruchteil der Auswirkungen, die solche Erfahrungen haben können. Malvina ist dem Leser als Ich-Erzählerin sehr nahe und wirkt manchmal trotz ihrer dreizehn, fast vierzehn Jahre noch sehr jung und kindlich. Dies macht sich besonders in ihren Gedanken bemerkbar und ihre Unsicherheit in Bezug auf eigentlich ganz klare Dinge nimmt den Leser ziemlich mit. Die bildlich nachvollziehbare Darstellung eines Fotoalbums mit schwarzen Flecken, wo ihr Unterbewusstsein die Erinnerungen einfach ausblendet und versteckt, ist eine wunderbare Methode, dem Leser die schlimme Situation nahe zu bringen, ohne ihn damit zu verschrecken.
Eindringlich und sehr vorsichtig führt die Protagonistin den Leser nicht nur durch ihre aktuelle Welt, sondern erzählt auch vom letzten Sommer und vielen kleinen bruchstückhaften Erinnerungen aus der Zeit, als sie ihre inzwischen beste Freundin kennen lernte. Obwohl die Sprache nicht sehr anspruchsvoll ist und das Auslassen von Anführungszeichen das Abgrenzen der wörtlichen Sprache schwierig gestaltet, gelingt es Beate Teresa Hanika trotzdem, einen fesselnden und tiefgehenden Roman zu präsentieren, der für Aufruhr sorgt und sicherlich auch einigen Diskussionsstoff liefert. Entgegen zahlreicher anderer Romane gibt es hier keine klare Zielgruppe und auch niemanden, dem man von diesem Buch abraten könnte – Fakt ist nur, dass dieses Buch gelesen und verstanden werden sollte, damit mehr Menschen mit offeneren Augen und Ohren durch die Welt gehen und irgendwann vielleicht jede noch so leise Stimme nicht länger überhört wird.
Fazit:
Beate Teresa Hanika liefert mit Rotkäppchen muss weinen einen ernsthaften und authentischen Roman, das sich sehr behutsam und eindringlich mit Kindesmissbrauch und dessen Auswirkungen auf eine Kinderseele befasst und dabei verschiedene wichtige Aspekte aus dem Umkreis der Protagonistin thematisiert. Sprachlich passt ist das Buch auch für jugendliche Leser geeignet, ohne dabei verstörend zu sein. Trotzdem sollten Eltern die Thematik des Buches mit ihren Kindern besprechen – vor, während und nach dem Lesen.
Wertung:
Handlung: 4/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 5/5
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2 Kommentare
Nach solch einer schönen Rezension, freut es mich umso mehr, dass ich Rotkäppchen diesen Monat auf meiner Leseliste stehen hab. Solche Themen gruseln mich immer etwas. Ist ja auch zum fürchten! Kann es sein, dass das Buch komplett ohne wörtliche Rede ist? Hab mal kurz geblättert. Ich mag solche Besonderheiten ab und an mal ganz gerne.
Liebste Grüße,
Damaris
Hey Damaris,
nein, das Buch ist nicht komplett ohne wörtliche Rede. Es wird zwar nur wenig gesprochen, aber wenn, dann wird es nicht durch Anführungszeichen gekennzeichnet. Verwirrt anfangs vielleicht ein wenig, macht aber nicht wirklich viel aus, weil die Intensität der Story dadurch nur noch verstärkt wird – finde ich jedenfalls. Ist aber sicher nicht jedermanns Geschmack, manch einer hat damit sicher Probleme beim Lesen.
Ich wünsche dir ganz viel Spaß bei der Lektüre und bin gespannt auf Dein Urteil.
Beste Grüße,
die Schattenkämpferin Jess