So dunkel der Wald (Michaela Kastel)
Klappentext:
Gefangen im tiefsten aller Wälder
Ronja und Jannik führen ein Leben ohne Zukunft, seit sie als Kinder von einem gewissenlosen Entführer tief in den Wald verschleppt wurden. Eines Tages gerät die Situation außer Kontrolle, und die langersehnte Freiheit ist zum Greifen nahe. Doch was so lange ein Wunschtraum war, erscheint ihnen plötzlich fremd und beängstigend. Und die Jagd auf sie hat bereits begonnen …
Gefangen in der eigenen Seele
Eindringlich und schonungslos führt uns Michaela Kastel in eine klaustrophobische Welt aus Gewalt und Angst. Ein Ausnahme-Thriller.
Rezension:
Wir nennen es das Sonnentor – das dunkle Loch mitten im Felsen, in das Paps uns wirft, wenn wir nicht artig waren.
(Seite 7)
Seit bereits zehn Jahren lebt Ronja im Wald fernab der uns bekannten Zivilisation, die nächste größere Stadt ist eine halbe Tagesfahrt entfernt, Kontakt zur normalen Außenwelt kennt sie nur in Ausnahmefällen. Jannik ist sogar noch länger bei dem Mann, der sie damals als Kinder entführt hat. Anfangs hat „Paps“, wie sie ihn nennen, schlimme Dinge mit ihnen beiden gemacht, doch mit den Jahren wurden sie zu alt. An ihrer Stelle kamen immer wieder neue Kinder, die an den Misshandlungen aus Lust und Spaß oder auch an den Bestrafungen bei Ungehorsam zerbrochen und schließlich gestorben sind. Natürlich kann „Paps“ Ronja und Jannik trotzdem nicht einfach gehen lassen. Sie sind inzwischen ein so fester Teil des Hauses im Wald und des Waldes selbst, erledigen wie selbstverständlich immer mehr Aufgaben im alltäglichen Leben, dass sie sich ein Leben außerhalb dieser kleinen eigenständigen Welt nicht vorzustellen wagen.
Doch ganz unerwartet ändert sich die Situation, und die beiden inzwischen Erwachsenen stehen vor der Möglichkeit, den Wald und all die grausamen Erinnerungen hinter sich zu lassen und ihr Leben endlich selbstbestimmt führen zu können. Ohne Angst vor Bestrafung, ohne die Verantwortung der Mitschuld an weiteren Entführungen und Toden – aber auch irgendwie ohne wirkliches Ziel und ohne eine Ahnung, wie das Leben da draußen in der echten Welt überhaupt funktioniert. Außerdem wäre da noch die hohe Wahrscheinlichkeit, dass man sie beide, Ronja und Jannik, der Mittäterschaft schuldig erklären würde, wenn man sie aufgreift …
Ihre Seelen liegen in Scherben, und nur in der Einsamkeit finden sie Zeit, zu heilen.
(Seite 36)
Wenn man sich nur Cover und Klappentext anschaut, dann ahnt man zwar schon, dass So dunkel der Wald kein klassischer Thriller und ganz sicher kein einfaches Buch ist. Was den Leser jedoch tatsächlich zwischen den Seiten erwartet, ließe sich in keinen Klappentext der Welt fassen. Aus der Sicht der inzwischen zwanzigjährigen Ronja erzählt Michaela Kastel die Geschichte einer jungen Frau, die mitten in ihrer Kindheit aus dem gewohnten Umfeld gerissen wurde und ein ganz anderes Leben kennenlernte, als ein zehnjähriges Mädchen leben sollte. Obwohl dabei keine expliziten Beschreibungen verwendet werden, sondern die Autorin alles nur hauchzart andeutet, entstehen im Kopf des Lesers gewaltige Bilder, die auch nach dem Lesen noch lange nachhallen. Der dabei genutzte Sprachstil wirkt im ersten Moment sehr nüchtern und irgendwie abgeklärt, doch zwischen den Zeilen verbirgt sich genau das, was diesen Thriller zu dem macht, was er ist: ein ganz besonderes Leseereignis. Trotz all der Nüchternheit schafft Michaela Kastel es, ihrer Protagonistin so viel realistisches Leben einzuflößen, dass der Leser teilweise das Gefühl hat, direkt neben Ronja zu sitzen und ihr beim Erzählen der Geschichte zuzuhören. Es kann sogar vorkommen, dass das Buch zugeklappt wird und man sich mental Ronja zuwendet, um ihr eine Frage zu stellen.
Denn genau das löst So dunkel der Wald mit nahezu jedem Wort im Leser aus: Fragen. Oder vielmehr den Drang, die dargestellten Dinge zu hinterfragen. Im Hinterkopf immer leise flüsternd das Stichwort „Stockholm-Syndrom“, irgendwie passt es nicht so ganz, aber irgendwie dann wieder doch. Besonders die Szenen, nachdem sich die Ursprungssituation geändert hat, zeichnen ein nachvollziehbares Bild von dem Zwiespalt, in dem sich Ronja, Jannik und weitere Beteiligte befinden. Und dass es nicht so einfach ist, aus einem gewohnten Kreislauf auszubrechen, auch wenn man diesen Kreislauf hasst und seit jeher an nichts anderes als Flucht denkt. Dieser Zwiespalt ist es auch, den der Leser in sich selbst spürt, wenn er versucht, eine Lösung für die vorherrschende Situation zu finden, und dabei durchaus eine ganze Palette verschiedener Emotionen durchläuft – ähnlich wie auch die Charaktere im Wald.
Dunkelheit bricht keine Menschen, sie verändert sie nur. Sie macht sie … dunkler.
(Seite 223)
Unterbrochen wird Ronjas Geschichte durch Tagebucheinträge, deren Herkunft jedoch erst recht spät tatsächlich bekannt wird. Natürlich werden verschiedene Vermutungen angestellt, und mit den ersten Auszügen sorgt Michaela Kastel eventuell für einige Verwirrung. Auch die Einschübe der ermittelnden Polizei wirken zu Beginn fehlplatziert und scheinen die Geschichte eher auseinanderzureißen, doch erst im weiteren Verlauf ergibt das Gesamtbild einen Sinn. So dunkel der Wald ist wie ein Puzzlespiel mit nahezu identischen Teilen, die sich nur in einem oder zwei winzigen Details unterscheiden. Es fällt schwer, die Lektüre zu unterbrechen, obwohl es durchaus einige Längen gibt, die jedoch nicht genug ins Gewicht fallen, um den beinahe durchgehend hohen Spannungsbogen zu relativieren. Als Leser leidet man mit – bei jedem Atemzug, bei jeder erwähnten, wenn auch nicht explizit beschriebenen Bestrafung, bei jedem Gedankengang, bei jeder Entscheidung. Ein insgesamt eher ruhiger Thriller, der aber gerade durch die ruhigen Töne und die zwischen den Zeilen versteckten Botschaften fest- und unterhält, nachdenklich macht und gesellschaftliche Zwiespälte offenbart.
Fazit:
Recht nüchtern erzählt und doch erstaunlich atmosphärisch und ergreifend – mit So dunkel der Wald hält der Leser ein ganz besonderes Buch in den Händen, das nicht leicht zu lesen und noch schwieriger zur Seite zu legen ist. Und falls dies doch mal gelingt, hallt der Inhalt lange im Kopf nach. Michaela Kastel beweist mit ihrem Herzensbuch, wie sie es selbst nennt, dass es für einen richtigen Gänsehauteffekt manchmal gar nicht viele Beschreibungen braucht, sondern es ausreicht, die Bilder im Kopf des Lesers zu aktivieren. Trotz einiger Längen eine ganz klare Leseempfehlung!
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