Spiegelkind (Alina Bronsky)
Klappentext:
Sie hat eine Gabe.
Sie wird verfolgt.
Sie ist deine Mutter.
Und wer bist du?
Im Leben der 15-jährigen Juli ist alles geregelt. Auffallen ist gefährlich, wer der Norm nicht entspricht, wird verfolgt. Doch dann verschwindet Julis Mutter plötzlich spurlos und der Vater zittert vor Angst. Nach und nach kommt Juli hinter das Geheimnis ihrer Familie: Ihre Mutter ist eine der wenigen Pheen, die wegen ihrer besonderen Fähigkeiten in der Gesellschaft der totalen Normalität gefürchtet und verachtet werden. Gehört auch Juli bald zu den Ausgestoßenen? Zusammen mit ihrer neuen Freundin Ksü und deren Bruder Ivan macht sie sich auf eine gefährliche Suche – nach der verschwundenen Mutter, der verbotenen Welt der Pheen und der Wahrheit über sich selbst.
Rezension:
»Du machst denselben Fehler wie alle anderen, die hierherkommen. Sie denken, ihr Leben ist eine Autobahn und die Strecke steht fest. Es will ihnen nicht in den Sinn, dass ich zwar das Unsichtbare sehen kann, vielleicht nicht sehr gut, andere können es durchaus besser. Aber es gibt keine Zukunft. Jeder entscheidet in jedem einzelnen Augenblick, welchen von vielen möglichen Wegen er einschlägt. Mit jedem einzelnen Atemzug formt man seine Zukunft und woher soll ich wissen, was du als Nächstes tun wirst, wenn du es selber nicht weißt?«
(Seite 237)
Juli ist eine Normale. Sie besucht das Lyseum, eine Elite-Schule, und verbringt den Rest der Zeit Zuhause. Zwei jüngere Geschwister und geschiedene Eltern sind nichts Ungewöhnliches, die Sorgerechtsregelung allerdings sehr wohl: Denn Julis Eltern teilen sich das Sorgerecht auf sehr interessante Weise. Wöchentlich wechseln sich Mutter und Vater ab, und anders als üblich ziehen dann nicht die Kinder zum jeweiligen Elternteil, in diesem Fall sind es die Eltern, die das Familienheim verlassen. In einer Woche ihrer Mutter kommt Juli eines Nachmittags früher als gewöhnlich nach Hause und findet das Haus in einem verwüsteten Zustand. Doch damit nicht genug: Auch ihre Mutter ist verschwunden und die Polizei scheint das überhaupt nicht zu interessieren. Juli stellt unangenehme Fragen und beginnt auf eigene Faust zu recherchieren – und stößt dabei auf Familiengeheimnisse, die ihr ganzes bisheriges Weltbild erschüttern. Zum Glück kann sie sich auf Ksü und Ivan verlassen, die so gar nicht in das Bild ihrer Familie väterlicherseits passen und mit denen Juli der Umgang verboten wird. Ein Verbot, an das sie sich natürlich nicht mehr hält, denn mit dem Verschwinden ihrer Mutter und dem scheinbaren Unbeteiltsein der anderen Familienmitglieder wurden in Juli Trotz und Kampfgeist geweckt. Aber nicht nur die eigene Familie hatte Geheimnisse vor ihr, auch Ksü und Ivan erzählen Juli nicht alles Wichtige …
Dass Alina Bronsky auf eine ganz besondere Art schreiben kann, hat sie bereits mit ihrem Debüt Scherbenpark bewiesen. Und auch ihr Ausflug in Richtung Jugend-Fantasy gelingt mit wenigen Stolpersteinen erstaunlich gut – erfahrungsgemäß ist Genre-Hopping nicht ganz einfach, doch hier liegt ein wunderbares Beispiel der möglichen Vielfalt einer Autorin vor. Anfänglich noch den Verdacht des Aufspringens auf den momentanen Erfolgszug im Hinterkopf, begreift der Leser recht schnell, dass Alina Bronsky zwar vereinzelte bereits bekannte Elemente aus verschiedenen, derzeit erfolgreichen Literatur-Genres in ihrem Spiegel-Trilogie-Auftakt verwendet, sich Spiegelkind jedoch auch durch winzige und liebevolle Details von der breiten Masse abhebt. Vielleicht ist es auch genau dieser erkennbare Genremix, der das Besondere ausmacht, denn klar zuordnen kann man dieses Buch keiner Schublade. Durch das Ausbleiben einer klaren Nennung von Ort und Zeit des Geschehens bleibt dem Leser viel Spielraum für eigene Ideen, was wahrscheinlich zu unterschiedlichen Interpretationen führt – ein recht seltenes Phänomen, gerade in der Jugend-Literatur.
Ein fehlendes Glossar, das die verschiedenen und bislang unbekannten Begriffe wie Lyseum, Phee oder Quadrum erklärt, wird während des Lesens mal als positiv, mal als negativ angesehen. Denn sicherlich können die einzelnen Begrifflichkeiten aus dem Zusammenhang heraus interpretiert werden, doch an so mancher Stelle wäre ein kleines Nachschlagewerk sicher hilfreich. So bleibt dem Leser nur die eigene Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen und Mutmaßungen anzustellen, um sich ein Bild von der Welt zu machen, die Alina Bronsky hier erschaffen hat – was auf seine Art auch sehr reizvoll sein kann, da nichts zu hundert Prozent vorgeschrieben scheint.
Als Auftakt für eine geplante Trilogie eignet sich Spiegelkind hervorragend – man lernt die Welt und die Protagonisten kennen; es tun sich einige Fragen auf, die zum Teil geklärt werden und zum Teil offen bleiben; der Leser kann Sym- und Antipathien entwickeln und sich ein eigenes Bild machen. Diese – derzeit oft vergebens gesuchte – Freiheit bildet gemeinsam mit der wunderschönen, zum Inhalt passenden Aufmachung nicht nur etwas fürs Auge, sondern eben auch endlich wieder einmal etwas für den Kopf. Man kann wohl mit Gewissheit sagen, dass auch die Folgebände ein Muss und ein Gewinn sein werden – bereits kurz nach dem Lesen der letzten Seite begibt man sich auf (leider erfolglose) Recherche, wann denn mit Teil zwei und drei gerechnet werden kann. Es heißt also abwarten und sich in Geduld – und in der Zwischenzeit auf ähnlich guten Lesestoff hoffen.
Fazit:
Nach zwei belletristischen Romanen wagt sich Alina Bronsky in den Bereich der Jugend-Fantasy und bindet in ihren Trilogie-Auftakt Spiegelkind auch so manches dystopisch anmutende Element ein. Sprachlich leichte Kost und interessant gestaltete Charaktere machen den Genre-Mix zu einem unterhaltsamen und kurzweiligen Lesevergnügen – lediglich ein erklärendes Glossar darf bei den Nachfolgern gern eingefügt werden.
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