Trisomie so ich dir (Dirk Bernemann)
Hardcover, 192 Seiten
Preise: Preis 12,95 € (D)
ISBN: 978-3-94292-005-6
Genre: Anti-Pop
Klappentext:
Roy hat ein Herz aus Pudding, Solveig züchtet Illusionen und Ingeborg muss am Ende ihres Lebens ihre Liebe halbieren. Die Leben dreier Menschen kollidieren, antriebsgestört, gefühlsüberfüllt und impulsbescheuert. Dabei passieren unnacherzählbare Dinge, bei denen nicht nur Gott lieber wegschaut.
Dirk Bernemann erzählt die verstörenden Biographien von drei Zufallsexistenzen, deren Lebenswege wie Regentropfen an der Fensterscheibe zusammenlaufen. Dazu benutzt er eine Sprache, die gleichzeitig dokumentiert und herzergreifend berührt.
„Die alte Frau denkt sich, wie sie Roy so ansieht und ihn mit ihren Geschichten ohrfeigt, was er denn schon von der Welt weiß und traut ihm lediglich Kindergefühle wie Geburtstagschönfinden oder Eisdielenwarteschlangengefühle zu.“
Rezension:
Wenn du dich alleine fühlst, dann stell dir vor, du sitzt in einem Bonbonglas und ein rotes Gummibärchen hält deine Hand.
(Seite 25)
Neues Buch, neuer Verlag, neue Optik – es scheint, es bräche im Hause Bernemann ein neues Zeitalter oder zumindest Schreibkapitel an. Doch abgesehen von der ohnehin seit dem ersten Buch konstanten Weiterentwicklung, die sich auch beim Sprung von Vogelstimmen zu Trisomie so ich dir ganz deutlich abzeichnet, erwartet das treue Fan-Herz nichts Neues in diesem Buch. Jedenfalls nichts, was der Leser nicht ohnehin erwartet hätte: Wie immer schonungslos Tabuthemen brechend und erbarmungslos Grenzen überschreitend wird man auch hier wieder mit feinster Wortakkrobatik verwöhnt, die jedoch nicht über die Hässlichkeit der erzählten Geschichten hinwegtäuschen kann, sondern sie auf typische Bernemann-Art eher noch zu betonen und unterstreichen scheint. Immer dann, wenn man schon glaubt, der Autor kann unmöglich noch eins draufsetzen, schafft Dirk Bernemann es mit Bravour, genau das zu tun. Wirkliche Atempausen sind hierbei weder dem Leser noch den gebeutelten Charakteren gegönnt, selbst größte Müdigkeit hat kaum die Chance, ihr Recht einzufordern. Mit Trisomie so ich dir liegt wieder einmal ein Roman aus der Feder des so frei von der Leber und aus dem Leben Wegschreibenden vor, von dem sich so mancher Kollege gerne die eine oder andere Scheibe abschneiden darf.
Mit Sicherheit keine leicht zu lesende und schon gar nicht leicht zu verdauende Literatur wird dem Leser serviert, wobei man sich wieder einmal an den vorzüglich ausgearbeiteten Protagonisten und auch Nebencharakteren erfreuen darf. Nur selten findet man in so deutlich kritisierenden Büchern tatsächlich Persönlichkeiten, mit denen man sich trotz (oder vielleicht gerade wegen?) all der knallharten Schwächen identifizieren kann, ohne sich dabei schlecht zu fühlen. Und auch das bei der Lektüre „normaler“ Literatur oftmals auftretende „die arme Sau“-Denken bleibt wie immer bei Bernemann-Büchern weitestgehend aus. Mitleid ist etwas, das sich die heutige Gesellschaft nicht leisten kann oder will oder sollte, und genau das scheint auch eine der Kernaussagen hier zu sein. Nicht, dass Mitleid etwas Schlechtes wäre, vielmehr wird es Menschen gegenüber empfunden, die dieses entgegengebrachte Gefühl weder brauchen noch wollen, ganz zu schweigen von der absoluten Nutzlosigkeit für die jeweilige Person. Bernemann beschreibt das Mitleidsgefühl aus der anderen Sicht und macht somit deutlich, dass es nur selten willkommen und sinnbringend ist.
Mit aller Klarheit und erneuter Wortgewalt zerrt Dirk Bernemann den Leser hinter dem Ofen hervor und spricht eiskalt das Tabuthema „Behinderung“ und den Umgang mit diesem an. Die dadurch aufgelisteten (leider) Alltagsbeobachtungen werden dabei ohne jedes Schöngerede und jede Schnörkelei an den Mann und die Frau gebracht, obwohl Bernemanns Sprachkultur wieder einmal wunderschöne Wortbilder schafft und den von Grund auf unschönen Inhalt auf diese Weise in etwas angenehm Lesbares verwandelt, ohne die Botschaft zu verschleiern. Und wieder hallen die verschiedensten Gedanken und Gefühle im Leser nach, der Blick auf die Umwelt und die Gesellschaft wurde wieder einmal durch einen Schriftsteller geschärft und verändert, die eigenen Probleme erscheinen im Gesamtweltkreislauf unbedeutend und doch nicht egal.
Wieder kann man nur sagen: Wenn schon Anti-Pop, dann garantiert Bernemann!
Fazit:
Dirk Bernemanns dritter Roman beweist einmal mehr, dass es genug Dreck auf der Welt gibt, über den es sich zu schreiben lohnt, ohne dass man ihn hübsch verpacken oder schön umschreiben muss. Drei voneinander unabhängige Charaktere, die allein vielleicht ein recht langweiliges und unspektakuläres Leben führen, werden in Trisomie so ich dir zu einer Einheit verknotet, von der sich auch der Leser als ein Teil fühlt – wenn auch nicht immer freiwillig oder mit einem guten Gefühl.
Handlung: 3.5 / 5
Charaktere: 5 / 5
Lesespaß: 4 / 5
Preis/Leistung: 4.5 / 5
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