Und auch so bitterkalt (Lara Schützsack)
Klappentext:
„Ich glaube, irgendwo auf dieser Welt denkt immer jemand an die Augen von Lucinda.“
Dies ist die Geschichte von Lucinda.
Lucinda ist schön, lebenshungrig und leuchtet wie ein Stern. So hell, so schön und doch so eisig kalt und Lichtjahre entfernt. Lucinda scheint in einer anderen Welt zu leben, nach eigenen, erbarmungslosen Regeln. Wer Lucinda liebt, muss ertragen, ihr niemals richtig nahe sein zu können. So sind Sterne eben.
Und manchmal fallen sie vom Himmel. Einfach so.
Ein Roman wie eine Sternschnuppe: zart, kraftvoll und leuchtend
Rezension:
Es gibt keine Wahrheit, die für alle Menschen gleich ist, sagt Lucinda, und deswegen gibt es auch keine Frage, nie man nicht beantworten kann. Es gibt unendliche viele Wahrheiten. Nur das, was wir fühlen, kann für uns auch wahr sein. Jeder kann jede Frage beantworten, wenn er genügend Farben im Kopf hat.
(Seite 15)
Malina betet ihre große Schwester Lucinda an, die beiden verbindet eine enge Beziehung und sie waren schon immer ein eingeschweißtes Team gegen ihre Eltern Isa und Frieder. Doch mit der Zeit entfremdet sich Lucinda irgendwie immer mehr und möchte mehr alleine machen, ist mit Jungs unterwegs und zieht sich sehr zurück. Trotzdem gibt es immer noch Momente, die nur Malina und Lucinda gehören, in denen sie sich gegen ihre kontrollsüchtige Mutter stellen. Ihr Vater hingegen ist sehr harmoniebedürftig und versucht oft, im Streitgespräch beschwichtigend zu wirken. Wirklich zu melden hat er allerdings nichts und Lucinda macht sowieso, was sie will. Dass ihre Mutter sie zum Essen zwingen will, passt ihr gar nicht, und so versucht sie alles, um Kompromisse zu ihren Gunsten zu verhandeln – und dadurch immer weniger zu essen. Doch für Lucinda ist das gar keine große Umstellung, auch bemerkt sie kaum, dass sie für ihre kleine Schwester ein wichtiges Vorbild ist, auch wenn Malina vieles nicht richtig versteht. Für sie ist nur wichtig, dass sie viel mit ihrer Schwester zusammen sein kann, obwohl diese immer weniger wird und schließlich kaum noch ihr Bett verlässt. Für Malina ist das kein Problem, denn Lucindas Bett – vollgestopft mit allem möglichen Kram – war schon immer ein Hort des Friedens und der Geheimnisse. Bis irgendwann der Tag kommt, an dem Lucinda nicht mehr sie selbst und kaum ansprechbar ist. Trotzdem ist Malina immer an ihrer Seite und begreift erst viel zu spät, was mit ihrer Schwester los ist.
Das Thema Magersucht wird neuerdings in vielen Jugendbüchern angesprochen. Allerdings werden diese Bücher meist recht einseitig aus der Sicht der betroffenen Person erzählt, um die vielen Gedanken, die dahinter stecken, zu erklären und verständlich zu machen. Lara Schützsack geht mit ihrem Romandebüt einen anderen Weg und versucht, dem Leser die Situation durch die Augen der Angehörigen näher zu bringen, hier in Person der jüngeren Schwester. Was man von Und auch so bitterkalt also nicht erwarten darf, ist ein klassischer Roman zum Thema. Vielmehr wird sich mit dem Drumherum befasst und mit der Tatsache, dass Magersucht ein schleichender Prozess ist, der allen Beteiligten eine enorme Kraft abverlangt. Die Autorin versteht es dabei sehr gut, das ernste Thema in wunderschöne Worte zu packen, sodass auch Sprachliebhaber zu hundert Prozent auf ihre Kosten kommen. Es wird eingehend und behutsam gezeigt, wie der Werdegang einer Magersüchtigen auch ihre Umwelt beeinflusst und wie vor allem enge Familienmitglieder ebenfalls unter der Situation leiden. Auch dass der Teufelskreis selbst unter größten Mühen nur schwer, manchmal sogar gar nicht durchbrochen werden kann, macht Lara Schützsack deutlich. Doch Und auch so bitterkalt ist dabei zu keiner Zeit belehrend oder bewertend – es ist ein objektives Umgehen mit einer viel zu oft vorhandenen Problematik, die in vielen Fällen gar nicht als solche erkannt wird. Obwohl Magersucht als grundlegendes Thema im Klappentext und in der Buchbeschreibung angekündigt wird, bekommt diese Erkrankung erst im späteren Verlauf wirklich ein Gesicht. Für Leser, die von Anfang an mit harten, klaren Fakten konfrontiert werden möchten, könnte der Roman daher anfangs vielleicht sogar ein wenig enttäuschend sein. Denn hier findet man die klassischen Anzeichen in Wortspiele verpackt, die erst in ihrer ganzen Schönheit tatsächlich auf die Thematik hinweisen und erst als Gesamtbild eine Veranschaulichung ermöglichen.
Was der Geschichte ein wenig fehlt, sind die Hintergründe. Der Leser erfährt eigentlich kaum, warum Lucinda diesen Hunger nach dem Hungern empfindet und warum sie sich quasi in Luft auflösen möchte, warum sie das Essen verweigert. Aber vielleicht braucht das Buch aus der Sichtweise von Malina diese Informationen gar nicht, um wirklich zu funktionieren und den Leser mitzureißen und zu beschäftigen. Denn genau das tut der Roman, er hallt lange nach und lässt den Leser mit zahlreichen Gedanken zurück. Und auch so bitterkalt ist kein Lesestoff für unterhaltsame Stunden und keine Lektüre für mal eben zwischendurch. Die Geschichte von Lucinda setzt sich fest und es braucht seine Zeit, bis man sie vom Kopf her wirklich verarbeitet hat, ein leises Nachwirken bleibt noch lange bestehen.
Durch die noch kindliche Naivität von Malina wird der Leser langsam an die Gefahr herangeführt, die Magersucht mit sich bringt. Die Eltern bieten hier einen interessanten Gegenpol, da die Mutter früh erkennt, was mit Lucinda los ist, und ihr Bestes versucht, um dem kompletten Absturz ihrer Tochter entgegen zu wirken, während der Vater sich eigentlich die meiste Zeit nur Ablenkung sucht. Dass man bei dem Versuch, Hilfe zu leisten, auch viel falsch machen kann, wird gerade in den Gesprächen zwischen Lucinda und ihrer Mutter, aber auch zwischen den beiden Elternteilen sehr deutlich. Diese charakterliche Ausarbeitung ist Lara Schützsack ebenfalls gut gelungen, denn für betroffene Familien ist es oft schwer, den richtigen Mittelweg zu finden, und noch öfter ist es für einen richtigen Rettungsversuch dann meist schon zu spät.
Und auch so bitterkalt ist ein kleines literarisches Juwel, das sich vielleicht auch für höhere Schulklassen als Unterrichtslektüre eignet, um auf die allgegenwärtige Gefahr aufmerksam zu machen. Für die eigentliche Zielgruppe könnte der Roman allerdings ein wenig schwer zu lesen sein, da Lara Schützsack sich einer besonderen Sprache bedient. Trotzdem kann dieses Kleinod nur jedem ans Herz gelegt werden, der auf der Suche nach einem ernsten Thema in schöner, passender Verpackung ist. Ein wichtiges Buch und eine ganz klare Leseempfehlung in diesem Winter und in diesem Jahr.
Sie singt leise mit: „Girl, girl, girl … Nur so kann er weiter von ihr träumen. Und wer aufhört zu träumen, der stirbt.“
(Seite 36)
Fazit:
Und auch so bitterkalt ist ein behutsamer, sprachgewaltiger Roman für gedankenreife Jugendliche und Erwachsene, der sich sehr einfühlsam mit dem Thema Magersucht auseinandersetzt. Anders als die meisten anderen thematisch ähnlich gelagerten Bücher befasst sich Lara Schützsacks Romandebüt einfühlsam mit der Sicht der Außenstehenden und versucht, das Thema von einer anderen Seite zu beleuchten. Leise klingend schildert dieses Buch, was in den passiv betroffenen Menschen vorgeht, und trifft genau damit mitten ins Herz. Eine Leseempfehlung in diesem Jahr!
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eine Kommentar
Huhu!
Und auch so bitterkalt habe ich auch gelesen und kann deiner Rezension nur zustimmmen! Toll geschrieben!
LG Lena