Vier Äpfel (David Wagner)
Rowohlt Verlag, 1. Auflage September 2009
HC mit SU und LB, 160 Seiten
€ 17,90 (D) | € 18,40 (A)
ISBN: 978-3-498-07368-8
Genre: Belletristik
Klappentext:
Tiefkühlkost und Frauenhaar – ein Mann geht einkaufen, verirrt sich im Supermark und begegnet einer verlorenen Liebe.
»Ein wunderbarer Roman.« Der Tagesspiegel
»Mit David Wagner ist einer der scharfsichtigsten Beobachter des Alltags wieder da.« Frankfurter Allgemeine Zeitung
»The Proust-inspired West German stylist.« The New York Times
Innerer Klappentext:
Mit vier Äpfeln fängt alles an. Ein Mann, der weniger zu tun hat, als ihm lieb ist, erlebt an der Obst- und Gemüsewaage seines Supermarktes einen magischen Moment: Die grünen Leuchtziffern zeigen 1000. Vier Äpfel, die zusammen genau tausend Gramm wiegen? In der Hoffnung, dieser Tag werde ein besonderer sein, klebt er das Etikett mit der Strichcodezeichnung auf die Tüte und schiebt seinen Einkaufswagen weiter durch den Nachmittag.
Seine Gedanken schweifen ab in eine Zeit, als man noch in kleineren Läden andere Dinge kaufte, zu Frühergerüchen, zum gewandelten Einkaufsverhalten überhaupt. Und er erinnert sich an L., die Frau, die ihn verlassen hat.
»Vier Äpfel« handelt von einer verlorenen Liebe und der mal tieftraurigen, mal skurrilen Schönheit der alltäglichsten Dinge. Ein in glasklarer, rhythmischer Prosa erzählter Liebes- und Supermarktroman, der durch seine präzisen, beinahe ethnologischen Beschreibungen Wahrnehmungsweisen schärft, sie vielleicht sogar verändert.
Rezension:
Ich weiß nicht mehr, wie ich heiße und wie alt ich bin, ich weiß nicht mehr, wie spät es ist und was ich einkaufen wollte. Alles ist mir durch die Gitter meines Einkaufswagens gefallen, durch das ich den cremefarbenen-schwarzgesprenkelten Fußboden sehen kann. Auf diesem Fußboden stehen die Regale, sie bilden Schluchten, durch die ich mich zwänge, und sind so voll, daß sie selbst verborgen sind. Keine Architektur soll mich ablenken, Fußbodenmosaike und Wandmalereien würden bloß zerstreuen, die Ware steht im Mittelpunkt. Deshalb bewege ich mich durch eine schlichte, gekühlte, vollgestopfte Schachtel, in der selten jemand einem anderen zu nahe kommt. Selbst wenn zwei Einkaufswagen aneinanderstoßen, sieht es so aus, als rollten sie ungehindert durch den anderen durch. Manchmal habe ich Angst, einen fremden Wagen zu durchqueren und das nicht einmal wahrzunehmen, so wenig vorhanden fühle ich mich. Ich schwebe, als hätte ich all mein gewicht verloren oder wäre, vielleicht habe ich es bloß noch nicht gemerkt, gestorben.
(Seite 62, Kapitel 45)
Der Protagonist, dessen Namen der Leser nicht erfährt, in Wagners Roman „Vier Äpfel“ macht aus einem einfachen Alltagserlebnis, dem Einkauf, einen philosophischen Ausflug in die Welt der Gedankengänge und Gedankenspiralen. Irgendwo mitten in Berlin, im Bezirk Prenzlauer Berg, sucht er einen Supermarkt auf, in dem er sich zu verlaufen und zu verlieren droht. Vier Äpfel, die zusammen genau 1000 Gramm wiegen, sieht er als ein Zeichen dafür, dass ein besonderer Tag ist.
Auf seinem Weg durch die Gänge, auf der Suche nach den Dingen, die in seinem Kopf als „zu besorgen“ abgelegt sind, schweift er mit den Gedanken vollkommen ab, allerdings ohne je wirklich das Ziel des Einkaufens aus den Augen zu verlieren. Immer im Hinterkopf ist die klare Information, sich in einem Supermarkt aufzuhalten, doch wie der Protagonist selbst vergisst man auch als Leser zeitweise diesen Aspekt.
David Wagner lässt seinen Protagonisten in Erinnerungen schwelgen, die ganz verschiedene Nachklänge hinterlassen. Die meisten seiner gedanklichen Rückreisen befassen sich mit L., einer Frau, die ihn nach einem kurzen gemeinsamen Glück verließ und an die er sich durch viele Dinge erinnert fühlt. Interessant ist hierbei die Umsetzung Wagners, bei welcher er mit diesen Erinnerungen und auch der Wahrnehmung des Protagonisten spielt – dieser ist sich nämlich immer selbst bewusst, dass sein Erinnerungsvermögen durch die vergangene Zeit seit L. durchaus getrübt ist und er dieser Frau manche Erinnerungen nur andichtet, diese aber mit ihr gar nicht stattgefunden haben.
Ebenso eindrucksvoll wirkt die Schlichtheit der Darstellung von verschiedenen Produkten, an denen der Namenlose auf seinem Weg durch den Supermarkt vorbeikommt. Bei denen er verharrt, über die er nachdenkt, die er schließlich ins Regal zurücklegt, weil er sie im Grunde gar nicht braucht. Er macht sich Gedanken darüber, wie die Produkte für sich selbst werben und welche Tricks im Supermarkt angewandt werden, um die Kunden zum Kaufen zu animieren. Aber auch Begegnungen mit anderen Kunden weiß der Autor lebendig zu beschreiben. Fast fühlt man sich als Leser ein wenig so, als würde man neben dem Protagonisten herlaufen oder in seinem Einkaufswagen sitzen.
Sprachlich kann der Autor vollends überzeugen – mit Wortspielen und unwahrscheinlich einfachen, aber schönen Bildern schafft Wagner eine kleine Welt in einem ganz normalen Supermarkt, der mehr als nur eben das ist. Mit Wortwitz und einem sehr feinen Gefühl für Situationen lässt der Autor den Leser am Einkaufserlebnis des Namenlosen und teilweise verloren Wirkenden teilhaben, ohne dabei ins Lächerliche abzurutschen. Die Verwendung der alten Rechtschreibung irritiert den Leser anfangs ein wenig, rutscht aber schnell unter den Tisch, da die Handlung – die sich im Grunde nur auf den Einkauf beschränkt – in ihrer Schlichtheit so mitreißend ist, dass die eigenen Einkaufstouren zukünftig in einem anderen Licht erscheinen.
Fazit:
Vier Äpfel ist ein sprachgewaltiger und poetischer Bericht über einen stinknormalen Einkauf in einem Supermarkt, der mit wunderschönen Bildern und tollen Wort- und Gedankenspielen zu überzeugen weiß. Ein sehr ruhiger und beschaulicher Roman, ein Lesegenuss der besonderen Art!
Wertung:
Handlung: 3/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5
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