Vogelstimmen (Dirk Bernemann)
Klappentext:
Dirk Bernemanns neuestes Werk über Menschen mit Vergangenheit, die erkennen, dass sie auch Menschen mit Zukunft sein könnten …
«Und ich dachte: Ein Frühlingstag. Ja, ja, ja, ein Frühlingstag. Der Mai hat seine Mitte erreicht. Doch was bringt die Mitte eines Mais, wenn es sowas wie Vergänglichkeit gibt, wenn man von der Mitte eines Mais schon das Ende eines Novembers erkennen kann?»
Rezension:
Ich war ein Widerspruch. Zu denkend zum wirklichen Losleben und zu fühlend zum einfachen Ableben. Irgendwo dazwischen in den grauen Wartezimmern des Lebens, da hielt ich mich auf und starrte die Wände an, die mich einfach nur zurück anstarrten und mich regungslos in sich gefangen hielten.
(Seite 113)
In seinem zweiten Roman setzt Dirk Bernemann dem Leser einen Protagonisten vor, der nicht näher am Leben sein könnte: Irgendwie einsam, irgendwie unzufrieden, irgendwie ziel- und perspektivenlos lebt der namenlose Mittdreißiger vor sich hin, immer im Hinterkopf das Gefühl, etwas ändern zu wollen, etwas ändern zu müssen, und doch hilflos und ohne Antrieb sein Leben bestreitend. Die Mutter im Pflegeheim vor sich hinvegetierend, bei jedem sonntäglichen, inzwischen routinierten Besuch des Sohnes ein bisschen mehr tot als lebendig bekommt sie kaum noch etwas von ihrer Umgebung mit. Zum Vater eher sporadischen Kontakt, das Miteinander kann man kaum als eine Vater-Sohn-Beziehung bezeichnen, wird dem Protagonisten mehr und mehr klar, dass die Ehe seiner Eltern mehr aus Vernunftgründen denn aus Liebe geschlossen wurde. Dass sein Vater all die Jahre keine wirklich emotionale Nähe zeigen konnte, weil er sich etwas anderes von seinem Leben erhofft, etwas anderes für sein Leben geplant hat. Dass sein Vater möglicherweise das Leben eines anderen gelebt und sich selbst ein ganz anderes erträumt hat.
Abgründe gab es überall und Gründe, in diese Abgründe zu fallen, gab es auch mehr als Hunderte. Und manchmal standen sie da, die richtigen Richtungslosen, standen an Abgründen wie die Selbstmordunentschlossenen und feierten da ihre extravaganten Partys, während derer sie in die Tiefe rauschten.
(Seite 227)
Doch entgegen aller Annahmen stürzt ihn diese Erkenntnis nicht in einen Abgrund des Selbstzweifels, vielmehr rüttelt sie ihn wach: Das Leben ist genau das, was du aus ihm machst. Die Aufgabe, dein Leben in die Hand zu nehmen und es zu dem zu machen, wie du selbst es dir vorstellst, kann dir niemand abnehmen – und du kannst niemanden in die Verantwortung für diese Aufgabe ziehen.
Bernemanns Protagonist lernt in kleinen, aber erkennbaren Schritten, dass das Leben nicht so eintönig, so vorgefertigt sein muss, wie er es kennt. Und mit ihm erkennt auch der Leser, der ohnehin erschreckend viele Parallelen zum eigenen Leben feststellt, dass nichts einem festen Plan untersteht, sondern alles beweglich ist.
Die Gefängnisse, in denen wir hier leben, haben wir uns selbst gebaut.
(Seite 222)
Der Ausbruch aus diesem selbstgefertigtem Gefängnis ist nicht leicht, gemeinsam mit dem Namenlosen begibt sich der Leser auf den steinigen Weg, etwas zu verändern – und diese Veränderung beginnt bei einem selbst, bei der ganz persönlichen Einstellung zum Leben und seiner Umgebung. Das Schicksal seiner Mutter, die an Demenz und Alzheimer leidet, wird aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, genauso wie die neue, zarte Beziehung seines Vaters zu einer anderen Frau, obwohl die Ehefrau noch gar nicht wirklich tot ist. Mit Vogelstimmen zeigt Dirk Bernemann, dass Vergänglichkeit nichts ausschließlich Schlechtes sein muss, sondern auch viel Gutes innehat.
Vergänglichkeit als Chance der Veränderung, ohne an seinen Prinzipien und Wünschen zu zweifeln – das ist nur eine der Botschaften, die mit diesem erneuten Wunderwerk der Sprachmagie in die Leserwelt getragen werden. Zahlreiche Sätze und auch einzelne Worte rühren den Leser an, eine Identifizierung mit dem Protagonisten fällt fast beängstigend leicht und trotz aller anfänglichen Schwierigkeiten, die Bernemanns Sprach- und Schreibstil – und auch ganz einfach seine Herangehensweise an Alltägliches – beim Anlesen mit sich bringen, gehört auch Vogelstimmen erneut zu den Werken, die einen fesseln und auch nach dem Lesen nicht loslassen, sondern noch lange Zeit nachhallen.
Das Leben ist ein Rucksack voller alter Fotos, aber auch mit den ungefähren Landkarten noch nicht erschlossener Gebiete darin.
(Seite 274)
Dirk Bernemann stellt einmal mehr unter Beweis, dass die Einfachheit der Dinge ganze Bücher verdient, die es sich zu schreiben und zu lesen lohnt. Mit einer ganz eigenen Poesie in einer sonst eher derben und teilweise vielleicht auch anstößigen Sprache schafft er es erneut, den Leser nahezu zum Nachdenken zu zwingen, bringt ihn zum Innehalten, zum Luftholen inmitten des viel zu schnellen Lebens. Er beleuchtet kleine, zum in der Masse Untergehen verurteilte Szenen und Momente und bereichert damit nicht nur das Leben seines Protagonisten, der gar keinen Namen zum Dasein braucht, sondern auch das seiner Leser. Die mit Garantie auch zum nächsten Bernemann greifen werden, in der Sicherheit, ein neues Stück Anti-Pop-Literaturgeschichte in den Händen zu halten.
Fazit:
Mit Vogelstimmen setzt Dirk Bernemann seine spezielle Art des Schreibens fort. Wieder setzt er sich mit einem ernsten Thema auseinander, ohne offensichtlich anklagend zu wirken. Wenn man möchte, kann man diesen Roman als Lebensratgeber verstehen – muss man aber nicht. Nachdenklich und wachgerüttelt wird man als Leser zurückgelassen – ein Lesegenuss der besonderen Art, wie man es vom Autor gewohnt ist.
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2 Kommentare
Hey Angel,
bin Deine vorzügliche Schreibe kosten zu dürfen ja „gewohnt“… aber wow!
Ich muss sagen, das ist mal eine Rezi mit besonders viel deines persönlichen Esprit. War lecker! Ich glaub ich muss das Buch echt unbedingt lesen!
Drück Dich!
Hey Fin,
freut mich, dass ich Dich überzeugen konnte!
Bin gespannt, was Du zu „Satt, Sauber, Sicher“ sagen wirst.
Drück Dich zurück, wir lesen uns heute Abend :)