Wie viel Leben passt in eine Tüte? (Donna Freitas)
Gabriel Verlag, 1. Auflage
Originaltitel: The Survival Kit
Aus dem Englischen von Christine Gallus
HC mit SU, 400 Seiten
(D) 18,95 € | (A) 19,50 € | 27,50 sFr
ISBN: 978-3-522-30312-5
Leseprobe
Genre: Jugend-Belletristik
Klappentext:
Ein iPod mit Liedern, ein Foto mit Pfingstrosen, ein Kristallherz, Buntstifte, ein Papierstern, ein Papierdrachen. Das alles befindet sich in der schlichten braunen Papiertüte mit der Aufschrift „Roses Survival Kit“, die Rose am Tag der Beerdigung ihrer Mutter findet. Es ist ein letztes Geschenk an Rose – und der Beginn einer Reise. Zögernd lässt Rose sich darauf ein. Jeder Gegenstand scheint sie dabei auf seltsame Art zu Will zu führen. Schon bald merkt sie, dass sie mehr für den zurückhaltenden Jungen empfindet. Doch dann geschieht etwas, dass Roses und Wills aufkeimendes Glück tief erschüttert. Ob ihre Mutter ihr auch für diese Situation etwas hinterlassen hat?
Ein bewegender und doch leichtfüßiger Roman über den Schmerz des Abschiednehmens und den Zauber eines Neuanfangs.
Rezension:
Meine Fingerspitzen strichen behutsam über den weichen Stoff, dann nahm ich das Kleid von der Stange und trug es langsam zu meinem Bett, wobei ich darauf achtete, dass der Stoff nicht den Boden berührte. Bevor ich es mir noch einmal anders überlegen konnte, löste ich blitzschnell die Schleife, drehte die Tüte um und kippte den Inhalt auf meine Bettdecke. Plötzlich, endlich, lag alles vor mir.
(…)
Als ich die Papiertüte umdrehte und schüttelte, um ganz sicher zu sein, dass sie leer war, segelte ein letzter Gegenstand auf mein Bett. Es war ein sauber zusammengefaltetes Blatt hellgraues Spitzenpapier. Mein Atem beschleunigte sich, während ich es hastig auseinanderfaltete, um Moms letzte Worte an mich zu lesen.
(Seite 39/42)
Roses Mutter ist nach langer Krebskrankheit gestorben und nichts ist mehr so wie früher. Ihr Vater ertränkt seinen Kummer in Alkohol, ihr Bruder ist zum Studieren an der Uni – Rose übernimmt mehr unfreiwillig neben der Schule auch die häuslichen Aufgaben, da ihr Dad dazu nicht mehr in der Lage ist. Am Tag der Beerdigung findet Rose beim Lieblingskleid ihrer Mutter ein persönliches „Survival Kit“ – eine Tradition, die eigentlich immer den Eltern der neuen ersten Klassen an ihrer Schule vorbehalten war, um es den Erwachsenen leichter zu machen, ihre Schützlinge in fremde Hände zu geben. Doch erst drei Monate nach der Beerdigung sieht Rose sich im Stande, sich dieses persönliche Erbe ihrer Mutter genauer anzuschauen. Von Anfang an ist ihr klar, dass jeder einzelne Gegenstand eine eigene Geschichte zu erzählen und seine eigene Bedeutung hat und ihre Mutter die Bestückung dieses Survival Kits mit Bedacht und Hintergedanken ausgewählt hat. Rose beschließt, jedes Stück einzeln zu betrachten und bei der Auswahl des jeweils nächsten Gegenstands nur auf ihr Bauchgefühl zu hören – sie ist sich sicher, dass ihre Mom ganz genau wusste, was sie tat, als sie dieses Päckchen vorbereitet hat. Es soll eine Unterstützung für Rose sein, die direkte Zeit nach ihrem Tod zu überstehen, die Trauer langsam verarbeiten und Schritt für Schritt wieder zurück ins Leben finden zu können. Doch der Weg, den sie dabei gehen soll, ist holperig und führt sie woanders hin, als sie selbst entschieden hätte. Zu Anfang jedenfalls …
Wie viel Leben passt in eine Tüte? Wenn man den Titel dieses Jugendromans liest, hat man wahrscheinlich erstmal ein Fragezeichen im Gesicht und viele Inhaltsmöglichkeiten im Kopf. Was man letztlich tatsächlich geboten bekommt, ist teils vorhersehbar und teils überraschend, in jedem Fall aber wunderschön geschrieben und sehr inspirierend. Was im Grunde eine normale Liebesgeschichte zwischen Teenagern, die einander nie aufgefallen sind, durch das Schicksal aber irgendwie zusammenfinden, sein könnte, wird durch die ernsthaften Komponenten – der Tod der Mutter und der Alkoholmissbrauch des Vaters – zu einem eher untypischen Jugendroman, der auch wunderbar erwachsene Leser zu unterhalten weiß. Donna Freitas trifft den Leser-Nerv auf unterschiedliche Weise und kann daher auch verschiedene Zielgruppen ansprechen, ohne dabei gezwungen zu wirken. Wie viel Leben passt in eine Tüte? ist eine angenehme Mischung aus jugendlichen und ernsthaften Themen, die weitestgehend sehr ausgewogen bleibt.
Trotzdem bekommt man einen guten Eindruck von der schweren Last, die auf Roses Schultern liegt, und kann sich bei jedem kleinen Lichtblick mitfreuen. Die Bewältigung der Trauer wird hier gut, aber nicht ausschweifend dargestellt – Donna Freitas achtet mehr auf kleine Details, als dass sie dem Leser große Emotionen vorsetzt. Alles ist sehr ruhig gehalten und obwohl größtenteils auch eine Liebesgeschichte erzählt wird, schafft die Autorin keine wirklich romantische Atmosphäre – über allem liegt irgendwie der Schatten der Trauer. Wahrscheinlich ist genau das der Grund, warum man als Leser kaum Zugang zu den Charakteren findet, die im gesamten Verlauf weitestgehend blass bleiben. Nur selten blitzt hier und da mal eine Besonderheit auf, die im Kopf bleibt, und das gelingt erstaunlicherweise eher den Neben- als den Hauptcharakteren. So können zum Beispiel Roses beste Freundin Krupa und die Großmutter väterlicherseits durch klare Ansagen punkten und gerade durch diese Direktheit das Herz des Lesers erobern, während Will und Rose als Protagonisten nur in wenigen Momenten wirklich überzeugen können.
Denn manchmal muss man für die kleinen Dinge dankbar sein, wenn einen die großen Dinge zu erdrücken scheinen.
(Seite 164)
Über diesen Mangel kann man aber relativ leicht hinwegsehen, denn insgesamt versteht die Geschichtenführung trotz großer Vorhersehbarkeit recht gut, den Leser in den Bahn zu ziehen. Durch die Aufteilung in mehrere große Abschnitte – immer einer für jeden Gegenstand aus dem Survival Kit – fliegen die Seiten förmlich dahin, auch wenn die Übergänge zwischen den Überkapiteln eigentlich unnötig sind. Ein weiterer toller Zusatzpunkt sind die 40 verschiedenen Lieder, die die einzelnen Kapitel einleiten und zur Playlist auf dem iPod gehören. Auch wenn sie nicht immer hundertprozentig passen oder die Botschaft des jeweiligen Kapitels nicht komplett übertragen können, ist es eine schöne Möglichkeit, bekannte Songs wieder- und unbekannte Titel neuzuentdecken. Wenn man möchte und es schafft, den Lesefluss zu unterbrechen, kann man sich zu Beginn jedes Kapitels erst das Lied anhören – alternativ auch erst nach dem Lesen, um anschließend einen Vergleich zwischen den beiden transportierten Botschaften zu ziehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass der eine oder andere Track auf der eigenen Festplatte schlummert oder im CD-Regal steht, ist relativ hoch, und den Rest findet man relativ problemlos legal zum Anhören im Internet.
Hinzu kommt die raffinierte Gestaltung des Schutzumschlages, der mit dem zarten Pastellrosa nicht nur wunderbar zur leisen Geschichte passt, sondern vor allem durch das nicht standardmäßige Schutzumschlag-Material sofort an eine Papiertüte denken lässt. Doch die wirkliche Raffinesse steckt in der Schrift: Diese ist nämlich ausgeschnitten und lässt das kräftige Orange des Buchdeckels aufblitzen. Ein toller Blickfang und sicherlich ein Grund, das Buch nicht wie alle anderen ins Regal zu sortieren, sondern das Cover ganz offen zu präsentieren.
Fazit:
Wie viel Leben passt in eine Tüte? ist ein Roman, der trotz seines leichten Sprachstils und der zarten Aufmachung ein ernstes und tiefgehendes Thema zum Inhalt hat und diesen auf behutsame Weise verpackt. Donna Freitas versteht es, auf verschiedene Emotionen und Gedanken einzugehen, und kann – trotz des teilweise überladen wirkenden Plots – den Leser recht schnell überzeugen. Ein sanfter und ansprechender Roman für Jung und Alt mit unglaublicher Inspirationskraft über Familie, Verlust und Freundschaft.
Wertung:
Handlung: 3,5/5
Charaktere: 3,5/5
Lesespaß: 4/5
Aufmachung: 4,5/5
Preis/Leistung: 4/5
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