Wolfskinder (John Ajvide Lindqvist)

Lübbe, 1. Auflage Oktober 2011
Taschenbuch, 560 Seiten
EUR 14,99 (D) | EUR 15,50 (A) | SFR 21,90
ISBN: 978-3-7857-6056-7
Leseprobe

Genre: Horror-/Mystery-Thriller


Klappentext:

Beim Pilzesammeln macht der ehemalige Schlagersänger Lennart einen grausigen Fund: ein lebendig begrabener Säugling. Der erste Schrei, den er von dem Mädchen hört, geht ihm durch Mark und Bein: Es singt Töne, glockenreine, vollkommene Töne. Was für ein Menschenkind hat er hier gefunden? Er nimmt es mit nach Hause und versteckt es. Theres – so wird es genannt – soll Lennarts eigenen Lebenstraum einer Musikkarriere erfüllen. Er will sie zu etwas ganz Großem machen, ahnt dabei jedoch nicht, dass er sich das eigene Verderben ins Haus geholt hat …


Rezension:

Alle Menschen tragen eigentlich einen anderen Namen
In jedem Menschen gibt es einen anderen Menschen
Das Gerede irrt und hinter den Worten gibt es andere Wort
Man sieht uns nur im Dunkeln
Man hört uns nur in der Stille
(Seite 208)

Der Klappentext verrät dem Leser nur einen sehr kleinen Bruchteil dessen, was ihn im vorliegenden Roman erwartet. Denn entgegen der Annahme wird hier nicht die Geschichte eines begabten Säuglings erzählt, sondern – aus verschiedenen Perspektiven – das Leben zweier Mädchen. Diese beiden Mädchen – Theres und Teresa – wachsen unabhängig und unter sehr unterschiedlichen Verhältnissen auf. Während Theres als Findling abgeschottet in einem Kellerraum groß wird und durch ihren „Ziehvater“, den ehemaligen Schlagerstar Lennart, eine sehr eigenartige Erziehung genießt und Weltanschauung vermittelt bekommt, gehört Teresa eher zu den Mädchen, denen es an nichts mangelt. Allerdings interessiert sie sich auch nicht für viele Dinge – als kleines Mädchen kann sie sich vor allem für Perlen und das Auffädeln der gleichen begeistern. Schon in jungen Jahren stellt sie interessante philosophische Grundsätze auf und löchert ihren Vater mit seltsamen Fragen. Doch bei beiden Mädchen wird dem Leser schnell klar, dass sie in irgendeiner Verbindung stehen, und obwohl beide Mädchen durch Erzählungen bis ins Jugendalter, die nur bruchstückhaft in Parallelen laufen, einzeln an den Leser herangeführt werden, sind Gemeinsamkeiten unübersehbar. Über verschiedene Internetseiten kommen Theres und Teresa in Kontakt, stellen ihre Ähnlichkeit im Denken fest und beschließen, dass sie sich kennen lernen müssen. Dieser Beschluss und Teresas erster Besuch bei Theres sind der Startschuss für eine Entwicklung, die noch lange nachhallen wird – in den Medien, bei den Beteiligten und auch im Kopf des Lesers. Gerade durch die wechselnde Perspektive wird das Geschehen noch näher gebracht, als die bildreichen und nicht gerade zimperlich ausgearbeiteten Worte es zu schaffen vermögen.

John Ajvide Lindqvist hat sich durch seine vorhergehenden Bücher bereits einen Namen gemacht, mitunter wird er als der „schwedische Stephen King“ gehandelt. Und tatsächlich sind einige Gleichheiten oder Ähnlichkeiten erkennbar, wobei sich Lindqvist durch seinen einzigartigen Schreibstil definitiv von seinem amerikanischen Bestseller-Kollegen abgrenzen kann. Auch ohne die Vorgänger von Wolfskinder zu kennen, wird der Leser nahezu sofort gefesselt, gebannt und mitgerissen – gerade die eingeflochtenen Musik- und später auch Poesie-Details lassen darauf schließen, dass der Autor ein vielseitiger Mensch ist und diese Vielfalt auch hervorragend in seine Geschichte einbringen kann. Was umso schöner ist, weil durch die Einbindung dieser Details der vorgehaltene Spiegel nicht wie ein Hammerschlag wirkt, sondern als ganz natürlich wahrgenommen wird. Die Darstellung der eigentlich typischen Außenseiter-Charaktere ist so gut gelungen, dass man sich als Leser zumindest in Teilen wiedererkennen kann und sich zur Abwechslung mal kein Mitleid, sondern viel mehr Dazugehörigkeit beim Lesen ausbreitet. Ganz zu schweigen von den „Maßnahmen“, die die Mädchen wählen, um das Gefühl der Lebendigkeit zu bekommen und zu erhalten, die auf den ersten Blick erschrecken mögen, insgeheim aber doch auch den Wunsch wecken, ebenfalls solchen – scheinbar selbstverständlichen – Mut zu empfinden. Trotz des Ekels, der zwischendurch immer mal wieder hochschwappt, behält die ganze Zeit vor allem die Faszination das Zepter in der Hand und mit jeder gelesenen Seite wird der Leser tiefer in die Abgründe gezogen, die der Autor hier offenbart.

Ein Mensch kann mörderische Gedanken denken und es hinter einem Lächeln verbergen, er kann von fließendem Blut und spritzender Hirnmasse fantasieren, während er summend sein Müsli verzehrt. Aber selbst wenn es an der äußeren Fassade nichts Konkretes oder Beweisbares zu entdecken gibt, wird es die Umgebung trotzdem früher oder später spüren. Es dringt aus ihm heraus wie Strahlung oder Osmose, es sickert aus seinem Wesen.
(Seite 534)

Wer sich nicht an wirklich blutigen, detailreichen Beschreibungen stört und grundsätzlich keine Abneigung gegen Musik und Poesie hegt; wer auch mit leicht (sich großartig in die Geschichte einfügenden) pädophilen Ausschmückungen umgehen kann und einen Blick hinter die – in diesem Fall harmlos wirkende – Fassade von Außenseitern werfen möchte; wer Wortspiele und Bildreichtum zu schätzen weiß, der kann ganz beruhigt zu Wolfskinder greifen und sich einfach von gutem, wohldosiertem Horror mitreißen lassen.


Fazit:

Bildreich und bis oben hin voll mit pikantem Detailreichtum gehörte Wolfskinder definitiv zu den Highlights der Buchveröffentlichungen im Jahr 2011. Die fesselnde Geschichte zweier Mädchen, die sich nirgends wirklich dazugehörig fühlen – eben Wolfskinder sind – und deshalb ihre eigene „Familie“ gründen, weiß mit der richtigen Dosis an Horror und Blut zu überzeugen. Ein voller Erfolg für John Ajvide Lindqvist und ein Muss für jeden Horror-Fan, der nicht auf abgrundtiefes Grauen und pures Gänsehautfeeling verzichten möchte!


Wertung:

Handlung: 4,5/5
Charaktere: 5/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis/Leistung: 4,5/5


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