Zebrawald (Adina Rishe Gewirtz)
Klappentext:
Drei Dinge wünscht sich Annie für diesen Sommer:
1. Größer werden.
2. Ein Abenteuer erleben.
3. Ihrem Vater begegnen.
Leider ist es unwahrscheinlich, dass sich auch nur einer der drei Wünsche erfüllt. Denn erstens ist Annie für ihre elf Jahre nun mal sehr klein. Zweitens wohnt sie am Rande des Zebrawaldes, wo nie etwas Spannendes passiert. Und drittens hat man ihr erzählt, dass ihr Vater nicht mehr lebt. Aber als eines Tages ein Fremder in ihr Haus eindringt, um sich dort vor der Polizei zu verstecken, hat das Abenteuer schon begonnen …
Eine besondere Familiengeschichte: ergreifend, emotional und wahrhaftig
Rezension:
Wir nannten den Wald Zebrawald, weil er wie ein Zebra aussah. Weiße Birken und schokoladenbraune Eichen standen bunt gemischt durcheinander, und wenn man aus einer gewissen Entfernung auf den Waldsaum schaute, etwa von der Rückseite unseres Hauses aus, dann sah man schwarze und weiße Streifen, die hoch hinaufragten und sich im Grün der Blätter verloren.
(Seite 23)
Gemeinsam mit ihrem Bruder Rew und ihrer Großmutter lebt die elfjährige Annie am Rande des Zebrawaldes. Hier passiert nur selten etwas Spannendes, sodass die größten Abenteuer der Geschwister meistens in selbsterzählten Geschichten passieren. Doch das bedeutet nicht, dass Annie keine Ziele und Wünsche hätte. Sie träumt davon, endlich zu wachsen und nicht mehr die Kleinste in ihrer Klasse zu sein. Außerdem möchte sie ein richtiges Abenteuer erleben – und endlich ihren Vater kennen lernen, von dem die Großmutter zwar einiges erzählt hat, der aber nach allen vorhandenen Informationen längst tot ist. Es steht also schlecht um Annies Wünsche für diesen Sommer. Das ändert sich jedoch schlagartig, als eines Tages ein Fremder in das Haus ihrer Großmutter eindringt, auf der Flucht vor der Polizei, und damit den gewohnten Alltag der kleinen Familie gehörig durcheinander bringt. Annie fragt sich, woher der Fremde wohl wusste, dass das versteckte Häuschen am Waldrand existiert, und warum ihre Großmutter derart seltsam reagiert, als der Fremde auftaucht. Schnell wird klar, dass der Sommer ihr vielleicht doch den einen oder anderen Wunsch erfüllt – wenn auch auf ganz andere Weise, als Annie sich vorgestellt hat. Und das junge Mädchen muss erkennen, dass die Welt aus mehr als nur Schwarz und Weiß besteht.
Dass es in jeder Familie kleinere oder auch größere Probleme gibt, ist sicher für niemanden ein Geheimnis. In ihrem Roman Zebrawald greift Adina Rishe Gewirtz ein besonderes Thema aus dem großen Überbegriff Familie auf und schenkt dem Leser dabei einen berührenden Einblick in die Gedankenwelt eines elfjährigen Mädchens. Und obwohl die Geschichte selbst eher ruhig erzählt wird, ist die Thematik selbst keine einfache. Die Autorin beweist hier handwerkliches Geschick und Fingerspitzengefühl, indem sie trotz der Eindringlichkeit eine zur Zielgruppe passende Sprache anwendet. Dadurch findet man schnell in die Geschichte und Zugang zu den Charakteren, auch wenn diese nicht in die eigene Altersklasse passen. Und obwohl es keine besonders umfangreiche Handlung gibt, wird dem Leser jede Menge Inhalt geboten. Mit viel Gefühl wird hier einmal mehr gezeigt, dass die Welt nicht nur aus Schwarz- und Weißtönen besteht, sondern sich dazwischen viele Grauzonen befinden. Trotz der geringen Zeitspanne merkt man schnell, dass die Charaktere sich anhand des Geschehens entwickeln. Zebrawald ist alles andere als leichter Lesestoff, die Atmosphäre ist überwiegend düster und voller Melancholie. Und doch sieht man zwischen den Zeilen auch Hoffnung durchschimmern – vor allem das offene Ende lässt zahlreiche Möglichkeiten für eine Weiterentwicklung zu, die sich im Kopf des Lesers nach Beenden des Buches entfalten können.
Bei den Charakteren dürften sich die Geister scheiden – man merkt auch sehr deutlich, dass sich Adina Rishe Gewirtz ebenfalls nicht ganz sicher war, wie sie ihre Protagonisten gestalten soll. Zwar findet man relativ leicht Zugang zu ihnen, bleibt jedoch immer an der Oberfläche haften, um nicht zu tief in die gedanklichen Abgründe gezogen zu werden. Vor allem Annie ist ein sehr vielschichtiger Charakter, der sich selbst allerdings die meiste Zeit in den Hintergrund stellt und viel über ihren jüngeren Bruder preisgibt. Zu ihm kann man als Leser keine richtige Beziehung aufbauen, was vielleicht an seinem schwierigen Alter liegt, denn Rew befindet sich gerade mitten in seiner kindlichen Trotzphase und lässt das nicht nur seine Familie, sondern auch den Leser deutlich spüren. Besonders schwierig ist es allerdings, sich eine Meinung über den fremden Mann zu bilden. Einerseits berührt seine Hintergrundgeschichte, andererseits ist man über seine Vorgehensweise entsetzt. Immer wieder wird der Leser in seinen Gefühlen erschüttert und zwischen ihnen hin und her geworfen. Das macht es nicht gerade einfacher, wirklichen Zugang zu ihm zu finden.
Insgesamt ist Zebrawald ein Buch, das nur schwer zu beurteilen ist. Mit leisen Tönen und einer erstaunlichen Tiefe wird hier ein für Jugendliteratur eher untypisches Thema angesprochen. Genau dieser Punkt macht es allerdings auch wieder sehr interessant für Heranwachsende und erwachsene Leser. Vielleicht kann dieser Roman die Leserwelt ein wenig polarisieren – in jedem Fall aber beschert die Geschichte um Annie und ihren Sommer ein paar ruhige und nachwirkende Lesestunden.
Fazit:
Die perfekte Familie – gibt’s das überhaupt? Im Zebrawald auf jeden Fall nicht, auch wenn die Geschichte von Annie, ihrem kleinen Bruder und deren Großmutter eine ganz besonders berührende ist. Adina Rishe Gewirtz hat mit ihrem Roman eine schwierige Thematik aufgegriffen und lässt den Leser auf behutsame Weise sein eigenes Urteil bilden. Auch wenn einiges vorhersehbar ist, wirkt die Geschichte nachhaltig und lässt so manches in einem anderen Licht erscheinen. Empfehlenswert für ruhige Lesestunden!
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