Backstage: … durch Raum und Zeit und Worte …
Erinnerungen sind niemals im Einklang mit dem, was war.
Der 05. April ist in diesem Jahr ein Tag, an dem ich mich einmal mehr mit der Vergangenheit beschäftigen möchte, einen Blick zurück werfe und quasi einen kleinen Jahrestag feiere. Denn im letzten Jahr war der 05. April ein Tag, an dem ich fast meinen ganzen Mut zusammen nahm, und es war ein Tag, an dem meinem Leben ein neuer Weg offenbart wurde – ein Weg, den ich in den letzten 365 Tagen oft gegangen bin. Manchmal schlich ich, manchmal stolperte ich, manchmal rannte ich, manchmal fiel ich und manchmal stand ich wieder auf, um stehen zu bleiben.
Bis das letzte Lied anfängt.
Im Oktober 2011 begegnete ich auf der Frankfurter Buchmesse einer jungen, unglaublichen Frau. Wirklich bewusst nahm ich sie gar nicht wahr, ich sah im Vorbeigehen nur ihr Buch in einem der vielen Regale liegen, ihre Autobiographie, von deren Cover mich ihr zartes Gesicht verhalten anlächelte. Und dann hörte ich ihre Stimme, ebenso verhalten, leise in dem Mikro verklingend, das ihr unter die Nase gehalten wurde. Eine Menge Leute standen vor dem Verlagsstand, sodass ein Blick auf sie nur schwer möglich war, also setzte ich mich in eine versteckte Ecke und lauschte mit geschlossenen Augen ihren Worten, während mir das Atmen immer schwerer fiel.
Und plötzlich Stille. Dann Aufregung. Sanitäter und unglaublich viele Männer in schwarzen oder dunkelgrauen Anzügen. Die Menschenmenge löste sich auf und ich erhaschte endlich einen ungehinderten Blick auf das Gesicht vom Cover, zu dem diese zarte Stimme gehörte. Umgeben von Security und Verlagswesen saß sie dort auf einem Stuhl, in sich zusammengesunken, einen großen Plüschhasen umklammert, während alle auf sie einredeten.
Sie sah so klein und verloren aus, dass ich mir ein Herz fasste und, ihr Buch wie einen Schutzschild vor meinem Bauch haltend, auf sie zuging. Unerschrockenheit vortäuschend bahnte ich mir einen Weg durch die Sanitäter und Security, ließ mich auch nicht vom böse guckenden Verlagswesen einschüchtern, sondern schlängelte mich bis zum Tisch durch und kam direkt vor ihr zum Stillstand. Sie blickte auf und ich fand mich sofort in ihrem Blick wieder.
Also erzählte ich ihr. Von mir und meiner Geschichte. Dass ich ihren Worten gelauscht habe. Davon, dass ihre Worte Mut machen und dass sie unglaublich stark ist. Ihr Blick wurde leer und schien davon zu driften, doch ich spürte, dass sie ganz und gar bei mir war. Und dann fragte ich sie, ob sie mir etwas in mein Buch schreiben würde. Sie lächelte, so zaghaft und sacht, dass man es kaum sah, und schrieb ein paar zusätzliche Worte in ihre Autobiographie. Mit einem geflüsterten „Danke“ gab sie mir das Buch zurück und streifte für einen Moment meine Hand. Ihre Haut war eiskalt und rauh und ich wollte nichts mehr, als sie einen Augenblick festhalten und ihr etwas Wärme zu geben.
Dann wurde ich weggeschickt, mit ihrem Buch in meinen Händen, mit ihren Worten in meinem Ohr. Es machte mir nichts aus, denn ich war wie betäubt und verbrachte den Rest des Tages fast ausschließlich in meinem Kopf. Versuchte zu verstehen und zu verarbeiten, was da auf der Messe mit mir passiert ist. Wer dieses zerbrechliche Wesen war und was sie durchgemacht hat. Und wie viel wir gemeinsam haben.
Nein, ich habe das Buch nicht gelesen. Jedenfalls nicht gleich. Ich konnte nicht, da war einfach zu viel Angst, was die „Geschichte“ noch in mir auslösen würde. Mehr als den Klappentext konnte ich nie verkraften, schon diese wenigen Worte waren fast zu viel für mich. Auch deshalb habe ich kaum einen weiteren Gedanken an das Buch oder die Autorin gehabt. Das Leben ging weiter, doch jedes Mal, wenn ich mit dem Finger über den Buchrücken strich, auf der Suche nach meiner neuen Lektüre, blieb ich an diesem Blau hängen.
Ein Jahr später, wieder auf der Buchmesse in Frankfurt, entdeckte ich, dass ein zweites Buch von dieser Autorin erschienen war. Ich sah den Namen, ich sah das Cover, ich sah den Klappentext. Und es war klar, dass auch dieses Buch in meinen Besitz gelangen würde. Ich nahm es gleich mit.
Und habe es ebenfalls nicht gelesen. Eine Angewohnheit von mir, dass ich Bücher gerne in der Reihenfolge lese, in der sie erschienen sind. Deshalb wäre es nicht richtig gewesen, das zweite Buch vor dem ersten zu lesen, und das stand noch immer ungelesen in meinem Regal. Buch Nummer 2 gesellte sich zu ihm und wann immer ich mein Arbeitszimmer mit den vollen Bücherregalen betrat, wurde ich quasi vorwurfsvoll angestarrt. Aber lesen konnte ich sie trotzdem nicht.
Dann kam 2013 und auf Januar, Februar, März folgte schließlich der April. Eher durch Zufall entdeckte ich auf der Facebook-Seite einer inzwischen geschlossenen kleinen Kneipe auf dem Hamburger Kiez ein blaues Cover, das mir sofort ins Auge stach. Es war das Cover des Buches, das solche Angst in meinem Inneren auslöste.
Die Autorin würde für eine Lesung in Hamburg sein. Am 05. April. In meiner Stadt. Noch immer hatte ich keinen Blick auf die inneren Seiten der beiden Bücher werfen können, doch ich beschloss, dass ich diese Lesung besuchen musste. Um sie zu sehen, um ihre Stimme zu hören, um mich ganz langsam an das Buch heran zu tasten.
Gedacht, getan. Ich hatte das große Glück, dass sich eine Freundin bereit erklärte, mich zu begleiten. Ob ich ohne ihre Hand, die ich während der Lesung öfter fest umklammern musste, durchgehalten hätte, weiß ich nicht. Es war gut, dass sie da war, denn so konnten wir uns gegenseitig Halt geben.
Und der war nötig.
Während der Lesung saßen wir ganz außen in einer Ecke, direkt neben dem Tisch, an dem die Autorin sich immer wieder abstützte. Eigentlich saßen wir also außerhalb ihres Blickfeldes, und trotzdem wanderte ihr Blick immer wieder zu uns, nahm sie mich mit ihren Augen immer wieder gefangen. Es war hart, viele Tränen flossen und nach der Lesung kam sie zu mir, umarmte mich fest und fragte, ob ich okay sei. Das war ich nicht, aber ich brachte ein kurzes Nicken zustande und verschwand erstmal nach draußen, um ein wenig durchzuatmen und eine oder zwei Zigaretten zu rauchen.
Solange ich draußen war, sprach meine Freundin mit ihr und erzählte ihr, dass ich ihr schon einmal anderthalb jahre zuvor auf der Buchmesse begegnet war und sie etwas in mein Exemplar ihrer Geschichte geschrieben hatte. Und da wusste sie, woher die Verbindung kam, die sie während der Lesung immer wieder zu mir rüberschauen ließ. Als ich den Raum wieder betrat, konnte ich mich mit ihr unterhalten, und so erzählte ich ihr auch, dass ich bislang nicht in der Lage war, ihr erstes Buch zu lesen.
Einen Monat später sollte dann eine Lesung in Kiel stattfinden. Meine Freundin und ich beschlossen, dass wir hinfahren würden. Inzwischen hatten wir ein gemeinsames Lesewochenende veranstaltet und das erste Buch gelesen. Das zweite schafften wir an diesem Wochenende nicht, doch wir nahmen uns viel Zeit, uns während des Lesens immer wieder auszutauschen und festzuhalten.
In Kiel sahen wir eine ganz andere Performance, die Autorin wurde hier von zwei wundervollen Menschen begleitet und unterstützt. Was umso wichtiger war, denn sie erzählte mir vorher, dass sie gehofft hatte, dass wir kommen würden, und dass sie für mich ihr Lesungsprogramm geändert hätte. Dass sie, um mir Mut und Kraft zu geben, zum ersten Mal seit Langem wieder einen Teil aus ihrer Autobiographie vortragen würde. Und sie hat sich eine besonders schlimme Stelle ausgesucht.
Seit der Lesung in Hamburg ist nun ein Jahr vergangen. Seitdem bin ich auf allen Lesungen gewesen, die mir möglich waren, habe Schullesungen begleitet und selbst zwei Lesungen hier in Hamburg organisiert. Inzwischen stehe ich in sehr engem Kontakt zur Autorin und ihrem Tourbegleiter, und seit ein paar Monaten trage ich ihre Worte auf meinem linken Unterarm.
Warum ich, obwohl es jedes Mal wieder sehr schwer für mich ist und jede einzelne Lesung so viele Dinge in mir auslöst, trotzdem all das auf mich nehme? Weil ihre Worte helfen und ihr Dasein diese Welt bereichert. Weil ich mich selbst sehe, wenn ich sie anschaue, und weil es mich glücklich macht, wenn ich sehe, dass es ihr besser geht. Es gibt gute und schlechte Tage, in ihrem und in meinem Leben, und zu wissen, dass dort jemand ist, der all das nachvollziehen kann, was wir durchgemacht haben und noch immer durchmachen, macht alles irgendwie ein wenig leichter.
Vor einem Jahr habe ich nicht nur eine wunderbare Autorin wiedergefunden, sondern eine Freundin gewonnen. Und nicht nur das, seitdem sind viele Menschen in mein Leben getreten, die ich ohne sie niemals getroffen hätte. Menschen, die mir Halt und Kraft geben, mit denen ich über meine Geschichte sprechen kann, ohne verurteilt oder bemitleidet zu werden.
Um nichts in der Welt würde ich diese Nähe und diesen engen Kontakt wieder eintauschen.
Denn all das bereichert mein Leben.
Jeden einzelnen Tag.
Teil 1: Neue Artikel-Kategorie: „Backstage“
Teil 2: Backstage: Wie viel Glück kann ein Mensch haben?
Teil 3: Backstage: Einmal und nie wieder!
Teil 4: Backstage: Warum mein Herz für Hamburg schlägt
Teil 5: Backstage: Shoppingwahn am Vor-Welttag des Buches
Teil 6: Backstage: Hamburger Nächte
Teil 7: Backstage: Draußen lesen
Teil 8: Backstage: Wenn Bedeutung unter die Haut geht …
Teil 9: Backstage: A Question Of Lust – oder nicht?
Teil 10: Backstage: … Sonntagsgedanken …
Teil 11: Backstage: Jetzt beginnt mein (Lese)Wochenende …
Teil 12: Backstage: Gehaime vor- und nachwhainachtliche Überraschungspost
Teil 13: Backstage: Manchmal gibt’s so Momente …
Teil 14: Backstage: Eine Zugfahrt, die ist lustig …
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Teil 17: Backstage: Wenn Schweigen zur Gewohnheit wird …
Teil 18: Backstage: Wenn eine gemeinsame Reise zu früh endet …
Teil 19: Backstage: „Ich muss mich leider über Dich beschweren.“
Teil 20: Backstage: Wenn Bedeutung unter die Haut geht (Teil 2)
Teil 21: Backstage: Wenn Alpträume nicht nur den Schlaf rauben.
Teil 22: Backstage: Der etwas andere Liebesbrief
Teil 23: Backstage: Warum Schwäche auch eine Stärke sein kann
Teil 24: Backstage: Somewhere over the rainbow
Teil 25: Backstage: Hi, my name is Chase!
Teil 26: Backstage: Wenn Bedeutung unter die Haut geht (Teil 3)
Teil 27: Backstage: Warum ich dieses Mal nicht am #litnetzwerk teilnehme
Teil 28: Backstage: Wenn Bedeutung unter die Haut geht (Teil 4)
Teil 29: Backstage: Sechs Monate, ein Jahr und zwei Leben
Teil 30: Backstage: #MobbingVerjährtNicht
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