Backstage: Warum Schwäche auch eine Stärke sein kann

sw_bs01Ja, ich weiß. Wir sind Menschen. Wir reden nicht gern über unsere Gefühle. Im Gegensatz zu anderen Tieren bedecken wir uns mit Kleidung und gehen unserer Fortpflanzung hinter geschlossenen Türen nach. Wir schämen uns, wenn wir nicht richtig funktionieren. Aber wir sind in der Lage, uns weiterzuentwickeln, zum Beispiel, indem wir darüber sprechen. Und vielleicht auch, indem wir darüber lesen und schreiben.

(„Ziemlich gute Gründe, am Leben zu bleiben“ von Matt Haig, Seite 7)

Vor ein paar Tagen habe ich auf der Nachtbusfahrt von Frankfurt zurück nach Hamburg ein besonderes Buch, das mir mehrfach von verschiedenen Freunden ans Herz gelegt wurde und aus dem das obige Zitat stammt, zu Ende gelesen. Es hat mich von Anfang an begeistert und angesprochen, doch irgendwie hat es in meinem Kopf erst auf den letzten Seiten richtig „klick“ gemacht. Anstatt direkt vom ZOB nach Hause zu fahren und mich wieder in meinem Bett zu verkriechen, habe ich spontan entschieden, mich mit einem heißen ChaiLatte noch ein wenig an den Hamburger Hafen zu setzen und meine Gedanken treiben zu lassen.

Aus „ein wenig“ wurden letztlich zweieinhalb Stunden und während dieser ist der kommende Text entstanden. Beim Schreiben und auch während des Postens hatte ich unfassbare Angst – was werden die Leute dazu sagen? Was wird es mir bringen, mein Innerstes so offen darzulegen und mich derartig verletzbar zu machen? Ich fühlte mich, als würde ich freiwillig von einer Klippe springen. Doch ich wurde aufgefangen und habe unglaubliches Feedback bekommen.

Angst habe ich immer noch. Denn ich weiß nicht genau, was jetzt kommt. Ich weiß nur, dass der Weg nicht einfach werden wird. Vor einigen Jahren bin ich die ersten Schritte schon gegangen, aber jetzt muss ich weitergehen. Und es ist ein so beruhigendes Gefühl, dass ich nicht alleine gehen werde.

Ich möchte euch diesen Text zeigen, weil er vielleicht einigen meiner Leser ebenfalls ein wenig Mut und Hoffnung schenken kann, wie es schon bei ein paar meiner Artikel war. Denn auch deshalb schreibe ich. Nicht nur weil es mir selbst hilft, sondern weil da draußen Menschen sind, die vielleicht auf genau solche Worte warten.

fighter

Liebe Freunde in Hamburg und der näheren Umgebung, aber natürlich auch diejenigen, die mehr als 100 Kilometer entfernt eine Freundschaft zu mir pflegen,
heute habe ich ein für mich sehr ernstes und schwieriges Thema auf dem Herzen.

Diejenigen, die mich etwas besser kennen, wissen, dass ich schon sehr lange mit mal mehr, mal weniger starker Depressionsanfälligkeit zu kämpfen habe. Doch auch denen, deren Verbindung zu mir eher oberflächlich ist, ist die schleichende Veränderung im letzten halben Jahr vielleicht aufgefallen.

Im Leben gibt es immer gute und schlechte und okaye Tage. Das ist völlig normal, bei allen Menschen. In den letzten drei, vier, vielleicht auch fünf Jahren kam ich mit diesen Aufs und Abs ganz gut klar. Seit Mitte, Ende Januar befinde ich mich jedoch leider wieder in einer dieser sehr gefährlichen Spiralen, die schwanken, letztendlich aber doch nur immer tiefer nach unten führen. Anfangs dachte ich noch: „Okay, Winter, kalt, dunkel, nass, ist nur eine Phase, da kommst Du wieder raus, das hast Du bis jetzt doch auch gut hinbekommen.“ Aber damit lag ich falsch.

Als mir Mitte April der letzte, wenn auch schon sehr wackelige Halt unter den Händen und Füßen wegglitt, zuckte ich mit den Schultern und sah (und sehe es immer noch) als Chance, mal wieder etwas in meinem Leben zu verändern.
Und dann kam der letzte Freitag, der der Beginn eines fünftägigen „Durchhängers“ war, während dem ich mein Bett nur für die natürlichen Bedürfnisse meiner Katzen und mir verließ. Gefolgt von zwei nahezu durchgemachten Nächten und Tagen, an denen ich fast nonstop unterwegs war.

Beide Extreme, besonders so dicht aufeinander folgend, machen mir Angst. Diese Erkenntnis ist gut, bringt mich am aktuellen Punkt aber nicht mehr weiter. Deshalb tue ich jetzt etwas, das mir von Haus aus sehr schwer fällt und das ich so in den Jahren dieses Entwicklungsprozesses noch nie gemacht habe:
Ich bitte um Hilfe.
Um eure Hilfe.

Denn ich weiß, dass ich es dieses Mal nicht oder nur mit einem sehr hohen Aufwand nicht vorhandener Energie schaffe, dieser Abwärtsspirale wieder zu entkommen.

Dabei geht es weder um materielle Hilfe noch um Bauchkraulerei. Sondern um eine Hand, die – bildlich gesprochen – meine Wohnungstür aufstößt und mich aus dem Igelbau rauszerrt. Wenn nötig, auch mit sogenannter sanfter Gewalt und einem liebevollen Arschtritt.

Verpflichtet mich zu einer Verabredung mit euch – zu einem Kaffee, einem Spaziergang, einem Gespräch, einem Essen, einem Konzertbesuch oder auch alles zusammen.
Was immer hilft oder helfen kann, dass ich nicht wieder zu der einsiedlerischen Leseratte werde, die sich in ihren geschlossenen Räumen vergräbt und ihre sozialen Kontakte nur online pflegt. Denn dahin möchte ich nie wieder zurück.

Ich weiß, dass ich vor allem selbst den Arsch hochkriegen muss, und allein dieses Wissen und das hier in Worte gefasste Eingeständnis zeigen, dass mich die letzten Jahre tatsächlich verändert und etwas gelehrt haben. Manche Hürden schaffen wir nicht alleine – und es ist okay, auch mal Schwäche einzugestehen und nach Hilfe zu fragen.

Danke, dass ihr bis hierhin gelesen habt.
Umarmungen und Küsschen vom Hamburger Hafen,
Jess <3

Dieser Beitrag ist Teil 23 von 30 aus der Serie: Backstage | Zeige alle Teile

Teil 1: Neue Artikel-Kategorie: „Backstage“

Teil 2: Backstage: Wie viel Glück kann ein Mensch haben?

Teil 3: Backstage: Einmal und nie wieder!

Teil 4: Backstage: Warum mein Herz für Hamburg schlägt

Teil 5: Backstage: Shoppingwahn am Vor-Welttag des Buches

Teil 6: Backstage: Hamburger Nächte

Teil 7: Backstage: Draußen lesen

Teil 8: Backstage: Wenn Bedeutung unter die Haut geht …

Teil 9: Backstage: A Question Of Lust – oder nicht?

Teil 10: Backstage: … Sonntagsgedanken …

Teil 11: Backstage: Jetzt beginnt mein (Lese)Wochenende …

Teil 12: Backstage: Gehaime vor- und nachwhainachtliche Überraschungspost

Teil 13: Backstage: Manchmal gibt’s so Momente …

Teil 14: Backstage: Eine Zugfahrt, die ist lustig …

Teil 15: Backstage: … durch Raum und Zeit und Worte …

Teil 16: Backstage: Interessante Jobangebote im richtigen Moment

Teil 17: Backstage: Wenn Schweigen zur Gewohnheit wird …

Teil 18: Backstage: Wenn eine gemeinsame Reise zu früh endet …

Teil 19: Backstage: „Ich muss mich leider über Dich beschweren.“

Teil 20: Backstage: Wenn Bedeutung unter die Haut geht (Teil 2)

Teil 21: Backstage: Wenn Alpträume nicht nur den Schlaf rauben.

Teil 22: Backstage: Der etwas andere Liebesbrief

Teil 23: Backstage: Warum Schwäche auch eine Stärke sein kann

Teil 24: Backstage: Somewhere over the rainbow

Teil 25: Backstage: Hi, my name is Chase!

Teil 26: Backstage: Wenn Bedeutung unter die Haut geht (Teil 3)

Teil 27: Backstage: Warum ich dieses Mal nicht am #litnetzwerk teilnehme

Teil 28: Backstage: Wenn Bedeutung unter die Haut geht (Teil 4)

Teil 29: Backstage: Sechs Monate, ein Jahr und zwei Leben

Teil 30: Backstage: #MobbingVerjährtNicht


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2 Kommentare
  1. Mel sagt:

    Liebe Jess,

    Drück dich!!!
    Ich denke in letzter Zeit häufig an dich, auch weil wir uns jetzt schon so lange nichts mehr von einander gehört habe oder uns gesehen. Ich danke dir, für deine offenen Worte. So etwas ist immer nicht so leicht. Gut gemacht!

    Ich hoffe sehr, dass es dir bald besser geht und wir uns auch mal wieder zum Cocktail oder Kaffee treffen können.

    Lg Mel

  2. JNSP sagt:

    Hallo Jess, ich möchte Dir für Deinen Mut wirklich Respekt aussprechen. Es ist toll, wie du es schreibst und um Hilfe bittest.
    Mir kamen Deine geschriebenen Worte sehr bekannt vor und kenne auch diese Spiralen inkl. das Gedankenkarussell, welches den Schlaf raubt und noch einiges mehr….
    Freunde und Bekannte sind wichtig, die können Helfen.. einfach dasein, sofern man welche hat..
    Als ich Dich zur Buchmesse  gesehen hatte, sah ich dich mit Deiner Maske und spürte, dass etwas dich schmerzt… fühlte es.. und ahnte etwas…
    Nun mit Deinem Outing bestätigte sich meine Befürchtung.. leider..
    Schreiben hilft, Deine Gedanken freien Lauf zu lassen und diese zu sortieren und die geschriebenen Zeilen sind für andere da, diese zu lesen und zu verstehen, begreifen !!
    Du kannst so gut mit Worten umgehen.
    Nimm die Hände, die Dir gereicht werden…. ergreife sie und zieh dich wieder heraus.
    (und das von mir zu hören…)
    Pass auf dich auf

    JNSP

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