Durch fremde Augen
Heute gibt es mal wieder etwas sehr Persönliches. Etwas Selbstgeschriebenes, aus einem „früheren“ Leben. Bin gerade durch Zufall wieder über diesen Text gestolpert und er berührt mich noch immer. Das Lied, das mich damals inspirierte und aus dem die eingefügten kursiven Zeilen stammen, ist „Through Your Eyes“ von Lunik und war mir sofort wieder im Ohr. Der Song selbst passt möglicherweise von der Stimmung her nicht zur Stimmung der Geschichte, doch als Lyric-Hörerin kommt es in diesem Fall mehr auf die Worte als auf die Musik an.
Ein Versuch, verborgene Erinnerungen aufzuarbeiten.
Durch fremde Augen
Standing in front of my mirror
And everything seems to be wrong
All I see is a pale, ugly woman
Too tired to do anything against it
Der große Spiegel an der Tür des Schlafzimmerschrankes zeigt das Bild einer schlanken Person. Die Haare streng im Nacken zusammengebunden, die leeren Augen mit dunklen Schatten verunziert, die trockenen Lippen aufeinander gepresst. Die Kleidung brav, das Gesicht ausdruckslos.
Ich stehe da und starre mein Spiegelbild an. Bin das wirklich ich? Kann das ich sein? Will ich wirklich das sein? Langsam schüttele ich den Kopf und beginne, meine Kleidung vom Körper zu streifen. Knopf für Knopf öffne ich die weiße Bluse, lasse sie achtlos hinter mich fallen. Der Reißverschluss des schwarzen Rockes klemmt. Leise fluchend zerre ich an ihm, bis er nachgibt und der Stoff über meine Schenkel zu Boden gleitet. Als ich aus den Pumps schlüpfe, schiebe ich den Rock mit einem Fuß zur Seite.
Wieder werfe ich einen Blick in den Spiegel. Die Person, die mir jetzt entgegen sieht, trägt schwarze Spitzenunterwäsche und halterlose, hautfarbene Strümpfe. Sie könnte wahrscheinlich sehr hübsch sein, würde sie die Haare offen und ein Lächeln tragen. Wo hat sie ihr Lächeln versteckt, wo ist der Glanz, den man in so vielen anderen Augenpaaren sieht?
If I could see me through your eyes …
Ich lasse meinen Blick über den Körper der Person im Spiegel gleiten, langsam, aufmerksam. Betrachte jeden Zentimeter der hellen, ebenen Haut, den zarten Brustansatz, die Vertiefung des Bauchnabels auf dem flachen Bauch, die leicht hervorstehenden Hüftknochen. Sehe, wie die Person meinem Blick mit ihren Händen folgt, die Stellen berührt, die ich eine Sekunde vorher angesehen habe. Ich lasse meine Augen weiter wandern, verharre an einem dunklen Fleck, der bläulich schimmert. Reiße mich von ihm los und betrachte erneut den ganzen Körper. Der über und über mit blau, rot und lila schimmernden Flecken übersät ist.
Als die Person im Spiegel diese Stellen berührt, sehe ich Schmerz in ihrem Gesicht aufblitzen. Eine Gefühlsregung in ihren Augen, ein leichtes Glitzern in den Augenwinkeln.
If I could touch me with your hands …
Die Hände der Spiegelperson verharren auf den dunklen Flecken, drücken darauf herum, als wollten sie sie wegschieben, wegdrücken. Die Gesichtsmuskeln verhärten sich, der Ausdruck in ihren Augen wird wieder hart. Und plötzlich eine feuchte Spur auf der Wange der jungen Frau im Spiegel. Eine zweite folgt, und eine dritte. Sie schreit nicht, sie zittert nicht, stumm weinend presst sie die Hände auf die schmerzenden Stellen ihres Körpers. Schaut auf und sieht mich direkt an.
On these days when everything seems to be wrong
I’d like to know what you think when you look at me
What do you see?
Ich stehe vor dem Spiegel und betrachte mich. Betrachte meinen Körper und die schmerzenden Stellen, die mir zugefügt wurden. Frage mich wieder einmal, was andere in mir sehen. Was sie veranlasst, mich so zu behandeln, wie sie es eben tun.
Könnte ich mich durch ihre Augen sehen, fände ich Antworten?
Könnte ich mich durch ihre Hände berühren, fände ich Gefallen an Schmerz und Pein?
Was würde ich sehen?
Und was würde ich fühlen?
(April 2008)
Zurück zu:
Interview mit Valentine & The True Believers online! Weiter mit:
Da liegt was in der Luft …
2 Kommentare
Wer ähnliches schon empfunden hat, weiß – es ist die Beschreibung der Ohnmacht.
Ohnmacht blockiert – sie ist Schutz der Seele und verhindert eine verstandesmäßige Erfassung des Ausgeliefertseins.
Nur Stück für Stück gibt die Seele diese Blockade auf – aus gutem Grund.
Es würde den Betroffenen in jedweder Form zerreißen, käme alles auf einmal hoch.
Eine schmerzvolle, in die Tiefe gehende und schöne Beschreibung des Zustands und der Ursache. Danke.
Ich danke Dir für Deinen Kommentar.