Vergänglichkeit

Momentan vertrete ich mal wieder eine Chefarztsekretärin in der Urlaubszeit, dieses Mal darf ich mich in der Abteilung für Neurologie austoben. Trotz des auf der Station, die auf dem gleichen Flur wie mein Einsatzbüro liegt, umher fliegenden EHEC-Virus fühle ich mich hier recht wohl. Die Arbeit hier macht Spaß und ist vielseitig, mitunter aber auch anstrengend. Manchmal klingelt das Telefon ohne Pause und ich komme kaum dazu, einen Gedanken oder einen Arbeitsschritt zu Ende zu führen. Dabei den Überblick zu behalten ist nicht immer ganz einfach, vor allem wenn mich dann noch solche Begegnungen oder Situationen aus der Bahn werfen, wie ich sie gestern erlebt habe.

Quasi direkt vor meinem aktuellen Arbeitsplatz liegt die EEG-Ambulanz, wovor mehrmals täglich Patienten Platz nehmen und auf ihre Untersuchungen warten. Oftmals von anderen Stationen gebracht, stehen oder sitzen sie manchmal auch länger wartend, da nur selten mit festen Terminen gearbeitet wird. Gestern gab es nun den Fall einer 97-jährigen, demenzkranken Patientin, die auf „unserer“ Station liegt und von einem Pfleger gebracht wurde, der sie dann vor dem Untersuchungszimmer abstellte. An sich keine schlimme Sache, denn leider sind die Patienten es ja gewohnt, ein wenig warten zu müssen. Was mich bei dieser Patientin ganz schlimm mitgenommen hat, waren ihre ununterbrochenen Rufe vom Bett aus, ob sie jemand nach Hause fahren könne. Bestimmt zehn Minuten lang und ich konnte nichts machen. Wie gelähmt saß ich auf meinem Bürostuhl und war ganz erschüttert. Es tat mir in der Seele weh, diese alte Frau dort liegen zu sehen und rufen zu hören und nichts tun zu können, um es ihr leichter oder erträglicher zu machen.

Erschreckend dabei war vor allem die brutal vor Augen geführte Tatsache, dass der Tod ein fester Bestandteil des Lebens ist und der menschliche Körper in jeder Hinsicht auf dem Weg dorthin immer mehr abbaut. Dass die Einsamkeit im Alter zum täglichen Begleiter wird, auch weil man einfach nicht mehr wirklich in der Lage ist, Kontakte aufrecht zu erhalten oder aktiv zu bleiben. Diese Erkenntnis macht Angst davor, älter und alt zu werden und irgendwann niemanden mehr zu haben. Gerade in der heutigen und zukünftigen Zeit, in der moralische und familiäre Werte immer mehr in Vergessenheit geraten und man am Ende eines Lebens nicht selten allein ist. Dass alles, auch das persönliche Selbst, vergänglich und alles irgendwann einfach vorbei ist. Selbst die Erinnerungen verblassen mit der Zeit und am Ende bleibt nicht viel übrig.

Kann man dagegen etwas tun, gegen das Vergessen und Vergehen? Ich denke dabei zum Beispiel an all die geschichtlich wichtigen Menschen. Erinnert man sich wirklich an sie oder sind es nicht viel mehr die Dinge, die sie taten oder eben nicht taten, an die erinnert wird? Sicherlich behält man geliebte Menschen, die man verliert oder zu verlieren droht, in guter Erinnerung. Ist beides vergleichbar? Ich habe mal gelernt, dass Leben durch Erinnerungen verlängert wird – Menschen, an die sich jemand erinnert, und sei es nur eine Person, ist nicht tot, weil nicht vergessen.
Doch was macht denn eine Erinnerung überhaupt aus? Was behält man in Erinnerung und warum? Die schönen Momente, ja, doch ich denke, es ist auch wichtig, die schlechten Momente in der Erinnerung festzuhalten und sich immer zumindest im Hintergrund darüber bewusst zu sein, dass alles, jeder schöne Moment, sein Ende finden wird. Erinnerung hin oder her.

Die alte Dame ist, soweit ich informiert bin, heute zurück ins Pflegeheim gebracht worden. Ob sie sich das vorgestellt hat, als sie nach ihrem Zuhause rief?


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5 Kommentare
  1. Sherry sagt:

    Soetwas nimmt auch mich unglaublich mit. Es tut einfach so weh, alte Menschen, die in ihrem Leben vermutlich viel mehr geleistet haben als wir, so zu sehen. Sie haben dieses Land mit ihren Händen aufgebaut und uns ein Land gesichert, in dem vieles schon bereit steht, während sie täglich darum kämpften, ihre Kinder versorgen zu können. Die Art, wie hier mit alten Menschen umgegangen wird, bricht mir täglich das Herz. Sie werden ganz offensichtlich ohne Scham im Alltag, als auch in der „Rentendebatte“ wie Ballast behandelt.

    Ja, ich habe auch Angst vor dem Älterwerden. Und das, obwohl ich aus einer Kultur komme, in dem alte Menschen mit größtem Respekt behandelt werden in ihrem familiären Umfeld. Und es eigentlich niemals zur Debatte stehen wird, ob meine Kinder mich eines Tages einfach alleine lassen oder sich für mich verantwortlich fühlen.

    Trotzdem. Allein der Umstand, dass man irgendwann abhängig von anderen sein wird, macht mir furchtbare Angst. Ich habe schon oft überlegt, dass ich mein Leben selber beende, wenn’s soweit kommt. Aber da ich das Gefühl habe, dass ich dann schnurstracks wiedergeboren werde bei dem Fall, werd‘ ich wohl das Leben bis zur letzten Sekunde aushalten.

    Tut mir Leid wegen des depressiven Beitrages. Ich will Dich ja nicht noch trauriger machen….

  2. Weder ist dein Beitrag depressiv noch macht er mich traurig. Traurig macht mich eher die Tatsache, dass du Recht hast.

    Seit gestern Mittag lässt mich diese Frau nicht mehr los, solche Dinge beschäftigen mich immer lange Zeit. Nach dem Regenguss (der ein Buch meiner Lieblingsautorin aufgeweicht hat *grrr*) saß ich auf dem Balkon und sah der Sonne zu, wie sie sich mit aller Kraft durch die Wolken kämpfte, und dachte die ganze Zeit daran, wie sehr manche Menschen um ihr (Über-)Leben kämpfen müssen und dass sie genauso viel Kraft aufbringen wie diese Sonnenstrahlen. Dass sie genauso sehr verdient haben, den Sieg zu erringen und Wärme zu schenken.

  3. Dreadnoughts sagt:

    Eines der letzten Bücher, die ich vor dem 19.12.2006 gelesen habe:
    Kevin Brockmeier Die Stadt der Toten.
    (Keine Ahnung, ob Du das kennst.)

    D.

  4. Ist mir nicht bekannt. Doch das werde ich schnellstmöglich ändern.
    Danke.

  5. MariWob sagt:

    ein wundervoller Blogeintrag…

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